Als Außenseiter auf der Zielgeraden

von am 30. April 2023 in Nachrichten

Als Außenseiter auf der Zielgeraden
Ein schöner heller Raum für den spannendsten Spieltag der Saison

Die 15. und letzte Runde der BL-Saison 2022/2023 läuft. Drei Absteiger stehen klar fest, um den 4. Abstiegs­platz gibt es nach dem gestrigen Spieltag echtes Gerangel. Die Berliner gewannen knapp, verdient und glücklich ihren Kampf gegen die SG Solingen, während der HSK gegen den SK Kirchweye unerwartet einen Mannschafts­punkt abgab. Somit ist der HSK Teil des Abstiegs­kampfes geworden, zumal die Mannschaft heute vermutlich von Werder Bremen hart geprüft werden wird. Das ist DIE Chance für die Schach­freunde: Wenn der HSK verliert, reicht ein Unent­schieden gegen den SV Mülheim Nord zum Klassen­erhalt. Mülheim hat trotz starker Stamm­auf­stellung bisher nur die nötigsten Punkte auf seinem Konto und will offenbar an diesem Wochenende noch mal alles im Kampf um den Klassen­erhalt nach vorne werfen. „Wenn dat man gutgeht“, würde meine Oma gesagt haben.

Die Schach­freunde Berlin sind zwar fast maximal aufge­stellt gegen Mülheim, aber doch sind sie Außen­seiter.

An Brett 1 stößt Jan-Christian mit Schwarz auf David Navara (einen Weltklas­se­spieler, als dessen Fan ich mich hier mal outen muss), der 132 ELO-Punkte mehr auf die Waage bringt, der größte ELO-Unter­schied an einem Brett heute. An den folgenden drei Brettern ist das Kräfte­ver­hältnis in etwa ausge­glichen, während im Unterhaus (besonders an Brett 7) auf Mülheimer Seite die auf dem Papier stärkeren Spieler sitzen. Schröder und Navara spielen eine selten gesehene spanische Variante (4. ... g6).

Kacper an Brett 2 mit Weiß will es wissen und ist gegen Daniel Fridman von Beginn an mit schwerem Werkzeug zugange. Er hat im Franzosen zwei Bauern geopfert und dafür Entwick­lungs­vor­sprung erzielt und - noch wichtiger - den schwarzen schwarz­feld­rigen Läufer abgetauscht. Die entstan­denen schwarzen Felderschwächen gilt es auszu­nutzen, und zwar pronto, bevor Schwarz sich konso­li­diert.

Jacek an Brett 3 mit Schwarz wird voll angerannt von seinem Gegner Daniel Dardha (g4, g5, h4). Da ist aus weißer Sicht der Überra­schungs­effekt einge­preist, und wer solchen Attacken standhält, hat vermutlich langfristig solidere Chancen. Schwarz hat zwischen­zeitlich einen Bauern inves­tiert, der weiße König wird dafür auch nach langer Rochade nicht zur Ruhe kommen und am Königs­flügel droht vorerst keine Gefahr mehr.

Mit viel Raum, dem Hebel f4 und einem Angriffsplan am Königs­flügel vor Augen hat Martin an Brett 4 sich eine sehr gute Ausgangs­po­sition geschaffen, die den Gegner viel Bedenkzeit kostet. Hier tippe ich auf einen vollen Punkt.

An den hinteren Brettern sieht es erstaunlich gut aus! Felix steht gut, Tor Fredrik und Max in etwa ausge­glichen, und Emil - Top-Scorer der Schach­freunde in dieser Saison - steht sehr aktiv, ist viel besser entwi­ckelt und bringt die schwarze Dame arg in Bedrängnis. Das sieht nach einem vollen Punkt aus. Nach zweieinhalb Stunden also insgesamt aussichts­reiche Positionen, das lässt hoffen.

Parallel wird Baden-Baden seiner Favori­ten­rolle in der BL gerecht, führt mit 1:0 gegen Remagen. Viernheim lässt Schönaich keine Chance, für den HSK sieht es auch nicht gut aus. Soweit alles nach Plan.

In Astana spielen zugleich Ding Liren und Ian Nepom­niachtchi ihre Schnell­schach­partien um die Weltmeis­ter­schaft, kommen­tiert von Fabiano Caruana. Wo soll man hier bitte zuerst hingucken? Dazu pralle Sonne am Himmel - irgendwie alles bisschen viel heute.

Schlechte Nachrichten. An Brett 1 nach schwerem Fehler vollstreckt David Navara einzügig mit 20. Lf7+ ! Der König muss weichen und nun ist die schwarze Dame auf d7 ungedeckt. Das tut weh und es ist erstaunlich, dass auf diesem Niveau sowas passiert. Aber: Die Stellung war verdächtig und die schwarze Vertei­digung nahe an der Überlastung, was gegen einen stärkeren Gegner leicht zusam­men­bricht. Der Druck auf die anderen Mannschafts­kol­legen, v.a. die vorderen Bretter, ihre Partien zu halten, nimmt zu. Emil steht immer noch sehr gut, schubst weiterhin die schwarze Dame herum, aber eine Verwertung ist noch nicht in Sicht.

Jungs, orien­tiert Euch an Ding und Nepo, da ist immer Chaos, und am Ende steht es 6:6 oder gerade 1:1.

Leider sieht es an den verblie­benen vorderen Brettern nicht gut aus. Kacper hat nicht nur einen Bauern weniger, auch ist die Kompen­sation dahin und sein Gegner hat insbe­sondere seinen weißfeld­rigen Läufer befreit. Jacek hat zwar zwei Bauern weniger, aber irgendwie hat die Stellung Potenzial (offene a-Linie, Batterie Dame-weißfeld­riger Läufer).

Nach dem natürlich ausse­henden Zug 29. Kd2? findet Jacek 29. ... Te3! Das Blatt wendet sich! Der schwarze Springer deckt zuver­lässig die weiße Mattdrohung, ist aber zudem eine Bedrohung für den weißen König, der sich hinter dem schwarzen Bauern e3 verschanzt hat.

Heftige Turbu­lenzen an Brett 5. Der temporäre Extra-Turm kann Felix nicht helfen, all die Mattdro­hungen seines Gegners abzuwehren. Vielleicht greift der Gegner ja noch mal fehl, andere Hoffnung kann man hier leider nicht mehr haben.

Felix hat leider verloren. Dafür hat Jacek gewonnen und Remis an Brett 6. Herzlichen Glück­wunsch! Es wird knapp.

Kacper wird verlieren, aber wenn es an den hinteren Brettern zu Siegen kommt und Martin remisiert, dann steht es 4:4. Man darf träumen!

(Auch Ding und Nepo spielen immerzu Remis, es steht 1,5:1,5 und in der letzten Rapid-Partie steht es ausge­glichen ...)

Es ist auch nach 5,5 Stunden immer noch alles offen. Kacper lebt noch, und träumt davon, mit seinen Königs­flü­gel­bauern und Turm gegen Dame etwas zu reißen. Martin presst und presst und vielleicht reicht es zum Sieg, den ich gar nicht mehr auf dem Zettel hatte. Max und Emil stehen beide im Turmend­spiel in etwa ausge­glichen. Das ergibt am Ende zwar nach derzei­tigem Stand eine knappe Niederlage, aber vielleicht geschehen an einem der hinteren Bretter noch Wunder.

Hinten 2x Remis und Martin gewinnt eine schöne Kampf­partie. Lehrreich, schaut es an! Im Mittel­spiel trotz Materi­al­gleichheit und symme­tri­scher Bauern­struktur ein doch erheb­licher Vorteil auf Seiten von Weiß: ein agiler Springer gegen einen einge­engten Läufer, und das in Zusam­men­arbeit mit der Dame. Aber wie das in einen vollen Punkt verwandeln? 43. ... Kg8? ist die Einladung, das Geschehen zu forcieren. 44. h4! Die folgende Sequenz - wie vermutlich alles in dieser Partie - sauber berechnet, Dauer­schach und Sprin­ger­verlust immer verhindert (was so alles hätte unterwegs passieren können), einen Bauern gewonnen und schließlich die Damen richtig getauscht (mit verblie­benem Freibauern auf g statt auf h). Tolle Technik, jeder Zug hat gesessen, das war schön anzusehen.

Hier der Endstand:

Leider hat es zum Klassen­erhalt nicht gereicht. Die Tabelle bringt es an den Tag: Die Schach­freunde Berlin sind 4. Absteiger. Eine Ära geht zu Ende: Seit 2008 war unser Team durch­gängig in der 1. Bundesliga vertreten. Wird es einen Rückzug geben, nur einen, damit wir als erster Nachrücker doch noch in der nächsten Saison dabei sind? Man wird sehen.

Zwischen­zeitlich ist Ding Liren Weltmeister und Baden-Baden Deutscher Meister. Herzlichen Glück­wunsch, in beiden Fällen hochver­dient. Baden-Baden mit einem Mannschafts­punkt, aber 10 Brett­punkten Vorsprung vor dem Zweit­plat­zierten Viernheim, Ding Liren hauchdünn durch umfas­senden Überblick und taktische Präzision in der 4. Tiebreak-Partie. Seht Euch mal das Ende der letzten Rapid-Partie an. Tg6! Ding geht dem Dauer­schach aus dem Weg und spielt auf Gewinn mit nur noch gut einer Minute auf der Uhr, aber der richtigen Berechnung bzw. Stellungs­ein­schätzung. Chapeau!

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