Verzockt! Schachfreunde Neukölln bricht mit drei Nullen die Spitze weg

von am 27. September 2001 in ECC 2001, Europapokal

Verzockt! Schachfreunde Neukölln bricht mit drei Nullen die Spitze weg

Das Parkett war bereitet, sieben Runden Schweizer System für die Schach­freunde Neukölln zum erfolg­reichen Abschluss zu bringen. Ausge­stattet mit reichlich Brett­punkten stand in der vorletzten Runde die Mannschaft Nummer 31 unter 39 Teams bei der Europäi­schen Meister­schaft für Vereins­mann­schaften auf dem Programm. Selbst mit einem knappen Sieg gegen den weißrus­si­schen Vertreter Vesnianka wäre man am letzten Tag auf Platz neun vorge­stoßen - und dann hätte vieles passieren können, je nachdem wenn man zugelost bekommen hätte.

Aber hätte und wenn gilt nicht, da kurz vor Ablauf der sieben Stunden Maximal­spielzeit Stephan Berndt sein Damen­end­spiel aufgab. Der Inter­na­tionale Meister Siarhei Azarau, der einzige Titel­träger bei den Weißrussen, hatte gegen die Drachen­va­riante mit 9....d5 des Berliners den üblichen Bauern für Kompen­sation ins Endspiel retten können. Auch wenn zwischen­zeitlich der Weg über das Turmend­spiel die mühsamste Option war, die Chancen auf eine Remis und einen unent­schie­denen Ausgang des Mannschafts­kampfes waren aus Neuköllner Sicht gering.

Dabei hatte sich die Angele­genheit gut angelassen. Gut gelaunt spazierten die sechs Recken aus der Haupt­stadt durch die Parkanlage des Crete Panorama Hotels, schließlich war man Favorit gegen das Team, bei welchem einer der sechs einge­planten Spieler nicht den Weg nach Kreta schaffte. Mit Rainer Bezler und und Philipp Scheff­knecht, zwei „Leihspielern“ des öster­rei­chi­schen Vertreter SK Hohenems, konnte im Wechsel gerade die Start­for­mation besetzt werden. Henrik Rudolf zeigte dem Einspringer Bezler aber sofort, wie ein Läufer­opfer auf b5 in der sizilia­ni­schen Eröffnung funktio­niert. Zwar galt es einige einzige Züge zu finden, aber auch wenn der Rostocker Mathe­matik-Student diesen Opferreigen noch in keiner Turnier­partie durch­führen musste, ein e4-Spieler kennt den Mecha­nismus, mit welchem die weißen Figuren den König zur Strecke bringen. Die schwarzen Schwer- und Leicht­fi­guren stehen einfach völlig depla­ziert am falschen Flügel.

Nebenan - bei unserem Top-Scorer Lars Thiede - begannen die Figuren auch bereits die Koordi­nation in Richtung weißer Königs­stellung. Doch zuvor lieferte Martin Borriss gegen den Ältesten im Vesnianskaer Team, den 60-jährigen Wladimir Litwinow, den Punkt ab. Mit Richter-Rauser ging es nicht durch die wilden Haupt­va­ri­anten, sondern entlang der strate­gi­schen Aufmärsche nach 6.Le2. Obwohl der Dresdener im Berliner Team die Prinzipien des Eröff­nungs­systems folge­richtig anwendete - schwarzer Bauern­sturm mit f5 und e5 versus Bauern­phalanx mit b4 und c5 -, am Ende konnte Weiß die besseren Linien für sein Figuren­spiel öffnen.

Doch der Ausgleich schockte uns noch nicht, weil Lars erst eine Figur für einen auf c3 vorge­rückten Bauern, der die Mattab­sichten unter­stützte, opferte, dann die Figur zurück bekam, um mit dem verblie­benen Material die Bauern­schwächen des 20-jährigen Junioren abzuräumen. Der gebürtige Spandauer strebt mit sensa­tio­nellen 5,5 Punkten aus sechs Partien geradewegs den Brett­preis an. Nach knapp vier Stunden lag also Neukölln mit 2:1 in Führung, und bei Dirk Poldauf war derweil ein Remis das wahrschein­lichste Ergebnis - gute Technik voraus­ge­setzt. Doch zuerst folgte erneut eine der horriblen Zeitnot­schlachten von Rainer Polzin. Mit den 30 Sekunden Bonus pro Zug verschaffte er sich bislang im Turnier immer ausrei­chend Zeit, um zwei, drei wichtige Gedanken zu sammeln. Heuer gestaltete sich die weiße Stellung in einem geschlos­senen Sizilianer mit frühen f4 zu kompli­ziert. Im 35. Zug leuch­teten drei Nullen im Display. Genau zum idealen Augen­blick opferte der 16-jährige Alexander Zhigalko einen Bauern; die Konse­quenzen einzu­schätzen beschäf­tigte unseren bisher am längsten am Brett sitzenden 1,98-Mann diesmal zu lang: ZÜ und Match­aus­gleich. Die Gesichter wurden längern, denn am Topbrett sanken die Perspek­tiven und Dirk hatte sein taktische Partie­phase längst hinter sich. Im Endspiel mit Dame und Turm hielt der weißrus­sische Underdog mit einem entfernten Freibauern den Trumpf in der Hand. Doch mit einem takti­schen Turmtausch eroberte der Schach­jour­nalist einen Stein zurück. Mit den Damen war es dann leichter möglich, das Remis zu halten, was nach viereinhalb Stunden auch besiegelt wurde.

Dann begann die quälend-lange Phase, in der Stephan Berndt gegen Stellung und Husten ankämpfte. Das Ende ist bekannt - wir haben es verzockt.

Auch dem zweiten deutschen Vertreter Werder Bremen ging es nicht besser mit 1:5 kam die Schach­ab­teilung des Vereins mit den grünen Trikots gegen die Bosnier von Kiseljak unter die Räder. Einzig Sven Joachim braucht die Hoffnung nicht sinken lassen. In der Bundesliga längst eine feste Größe, fehlt im noch der passende IM-Titel. Einen Schritt dazu hat er mit 4,5 Punkten aus sechs Partien (dabei wegen des Brett­wechsels viermal mit schwarzen Steinen!) bereits getan. Vorzeitig sicherte er sich die Norm, die bei dieser Meister­schaft ausnahms­weise auch in sieben Runden möglich ist. In der Schluss­runde ist sogar die Großmeis­ternorm in Reich­weite.

Nicht mehr im deutschen Blickfeld ist der Titel. Der wurde bereits im inner­rus­si­schen Duell vergeben. Norilsky Nikel besiegte St. Petersburg mit 3,5:2,5 und hat zwei Mannschafts­punkte Vorsprung. Da gegen alle Verfolger bereits gespielt wurde, wird es heute wahrscheinlich ein kurzes 3:3 gegen wen auch immer geben. Dann kann der Wodka fließen. Die Teamstra­tegie um Ex-Fide-Weltmeister Alexander Chalifman war aller­dings etwas seltsam. Selbst verein­barte er wiederum ein Kurzremis gegen Sergei Dolmatow und Kämpfer Viktor Kortschnoi musste nach der Vorta­g­nie­derlage pausieren. So konnte sich der „Mann der lockeren Opfer“, Alexander Grischuk, an Brett zwei bei Nikel leisten, gegen Peter Swidler seine Sieges­serie zu stoppen. Garant für den Gewinn war Sergei Rublewski, der gegen Alexander Sakaev in der franzö­si­schen Tarrasch-Variante einen Bauern in ein Turmend­spiel mitnehmen konnte. Ein breites Lächeln und viel Schul­ter­kopfen. Mal sehen, wer am Abschlusstag alles fröhlich feiern wird!

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