Harter Kampf gegen Mülheim
Dresden in der Vorweihnachtszeit – das wird langsam zu einer schönen Tradition. Für die Schreiberin „das ganze Paket“: Am Freitagabend zum ersten Mal in der Semperoper, die Bundesligawettkämpfe, das Wiedersehen mit Schachfreunden und die ganze Stadt in Weihnachtsstimmung.
Wieder wird im Rathaus gespielt. Von meinem Hotel in Radebeul aus fahre ich direkt mit der Straßenbahn zum Spiellokal und erlebe dabei den berühmten „Canaletto-Blick“ über die Elbe auf das alte Dresden, dann den Altmarkt, der dieser Tage ein Weihnachtsmarkt ist, und natürlich wuselnde Menschen mit Einkaufstüten beim Geschenke Kaufen.
Im Rathaus angekommen, geht man wieder die opulente Treppe hinauf und wird sogleich eingestimmt auf einen vollen Saal mit Wettkampfspannung in der Luft. Aber diesmal: Saal – ja, aber nicht voll. Zum Spielbeginn um 14 Uhr sind gerade zwei Mülheimer Spieler an den Brettern, und auch die Schachfreunde sind noch nicht ganz vollzählig. Auf den überfüllten Straßen und Parkplätzen verlieren manche die ersten Minuten ihrer Bedenkzeit.
Heute spielen also die Schachfreunde gegen Mülheim. Mülheim muss langsam Punkte auf die Tabelle bringen, noch steht da an Mannschaftspunkten nix. Warum also nicht gegen die Schachfreunde damit beginnen? Beide Mannschaften sind also stark besetzt. Die Spitzenpaarung beispielsweise lautet David Navara gegen Kacper Piorun. Bis ans letzte Brett haben die Schachfreunde überall kleine ELO-Nachteile, die Mülheimer sind also leicht favorisiert.
16 Uhr. Das Mittelspiel ist überall in vollem Gange, die Köpfe rauchen. Die Bretter 2 und 3 sehen aus Berliner Sicht nicht gut aus. Wojciech (er hat vermutlich 14. Da5+ übersehen) und Ilja haben je einen Bauern weniger. Während Ilja keine Kompensation hat und nun gegen Daniel Fridman eine schwere Verteidigung im Doppelturmendspiel vor sich hat, kommt Wojciech nun endlich zur Rochade. Richtig gut auf Brett und Uhr – er hat eine Stunde mehr Zeit als sein Gegner – steht Marco an Brett 6. Aber auch bei Jan und Peter sieht es freundlich aus.
Die Bretter 2 und 3 gehen sehr schnell fast gleichzeitig verloren. Peters Partie wird (leider nur) Remis. Doch 5 Partien sind offen, wovon einige deutlich besser (Bretter 4, 6 und 8), der Rest etwa ausgeglichen steht. Doch dann passieren seltsame Dinge.
Kacper verlor vermutlich irgendwie den Faden. In ausgeglichener Stellung, um den 20. Zug herum (Schwarz ist nicht in Gefahr, hat die bessere Bauernstruktur und ist im Besitz der d-Linie, vermutlich steht er leicht besser), kippte die Partie und plötzlich war das entstehende Endspiel verloren. Was ist da passiert? Ist das das Highlevel-Schach, das dem Kiebitz meines Niveaus nicht zugänglich ist? Kleine Ungenauigkeiten von Schwarz scheinen sich summiert zu haben, David Navara (ELO 2740) hat die besseren Entscheidungen getroffen und im Endspiel keine Luft mehr ‘rangelassen. Ich habe im Anschluss versucht, der Analyse der beiden zumindest teilweise zu folgen. Die Analyse in Polnisch in rasendem Tempo, David Navaras Finger huschten so schnell mit den Figuren übers Brett, und waren doch zu langsam, um seinen Gedanken zu folgen.
Marco steht immer besser! In einer Sämisch-Variante im Königsindisch attackiert er mit Weiß am Königsflügel, Schwarz am Damenflügel. Weiß ist schneller und hat zudem seine Königssicherheit viel besser im Griff. Weiße Bauern werden bis auf h6 und g5 vorgetrieben, der schwarze Sf6 muss weichen, es folgt der Tausch der schwarzfeldrigen Läufer, 20. Dd4+ (vielleicht hat Marcos Gegner diesen Zwischenzug übersehen?) und plötzlich kann Weiß wie nebenbei den wichtigen Bauern auf b5 naschen. Da ist nicht nur ein Bauer ersatzlos verschwunden, da löst sich auch das schwarze Gegenspiel in Luft auf. Das sah alles so leicht aus! Der weiße unrochierte König steht – bauernlos – auf f2 verblüffend sicher. Marco fährt diese herausgespielte Gewinnstellung sicher nach Hause. Das war lehrbuchreif, meine persönliche Partie des Tages! Es sollte leider der einzige Sieg für die Schachfreunde bleiben.
Meine Engine sah Jan ebenfalls klar auf der Siegerstraße. Nachdem er dominant steht mit sehr gut koordinierten Figuren, bildet er einfach einen Freibauern auf der c-Linie. Dann folgt auch noch das starke Qualitätsopfer Txa8 und nun sollte Schwarz erledigt sein... Doch so einfach, wie mein überbordender Optimismus verheißt, ist es nicht. Nach 39. c7 steht Jan laut Fritz bei +5,3 (= haushoch gewonnen). Dd1 wäre nun ein starker Zug, der auf die schwarze Grundreihe gerichtet ist und zugleich alle Drohungen der schwarzen Dame überwacht. Doch statt dessen zieht Jan 40. Sd6?. Sieht erst mal gut aus: droht einzügig Matt auf f7 und hilft dem c-Bauern bei der Umwandlung, übersieht jedoch den schwarzen Konter Th8!. Dieser Zug fällt Schwarz praktisch in den Schoß, denn er muss ja das Matt abwehren, Platz für seinen König schaffen und einen anderen Zug, der diesen Zweck erfüllt, hat er nicht (40. Kg7 verliert sofort nach 41. Txf7+ Kg6, 42. Th7+ Kg5, 43. Sf7 Matt). Auch 40. Dc1+, 41. Kg2 Dc6+, 42. De4 ist keine Rettung. Aus dem Nichts also kommt dieser als Verteidigungszug getarnte Punch Th8! Der Turm greift zugleich h2 und den weißen König an. Plötzlich hat Weiß ein ernstes Problem, aber die Zeitkontrolle ist geschafft. Weiß kann den Schocker wegstecken und muss den Läufer opfern, um den Angriff zu parieren. Der „Lohn“ ist Dauerschach. Immerhin. Aber viel zu wenig angesichts der herausgespielten Stellung nur wenige Züge zuvor. Das sind so die Momente, in denen ich Schach ungerecht finde. Schwarz ist so was von tot, und dann ist da so ein Punch in der Stellung, dass Weiß sogar Glück braucht, um das Remis zu erzielen. Ich werde Jan mal fragen, was er gefühlsmäßig in diesen Momenten durchgemacht hat.
Krzysztof kam leider über ein Remis nicht hinaus, obwohl er die ganze Partie über versuchte, kleine Unwuchten in der Stellung zu erzeugen. Schließlich fand sein Gegner mit den Bauernzügen b4 - b5 - b6 mit nachfolgendem Dauerschach eine aktive Remis-Idee.
Emil kam wieder in schreckliche Zeitnot. Schon bald (nach 20 Zügen) spielt er auf dem Inkrement, ließ dabei die Uhr einmal bis auf 3 Sekunden runterlaufen. Mannschaftsleiter Lars war not amused. Als Emil im 26. Zug Te1 nicht findet und damit einen sofortigen Figurengewinn verpasst, fange auch ich an, mir Sorgen zu machen. Schließlich entgleitet ihm die Partie komplett, nach einem Qualitätsopfer mit nachfolgendem Abtausch fast aller Figuren findet er sich in einem aussichtslosen Endspiel mit Springer gegen Turm wieder, und das bei schlechter Bauernstruktur.
Schachfreunde Berlin 2½ : 5½ SV Mülheim Nord Piorun, Kacper 0 : 1 Navara, David Moranda, Wojciech 0 : 1 Tregubov, Pavel Schneider, Ilja 0 : 1 Fridman, David Sprenger, Jan Michael ½ : ½ Feygin, Michael Schreiner, Peter ½ : ½ Saltaev, Mihail Baldauf, Marco 1 : 0 Hausrath, Daniel Jakubowski, Krzysztof ½ : ½ Zelbel, Patrick Schmiedek, Emil 0 : 1 Dinstuhl, Volkmar
Am Ende kassieren die Schachfreunde eine viel zu hohe Niederlage. Das Ergebnis hätte auch 4 : 4 oder noch besser für die Schachfreunde lauten können. Sehr schade. Gehen wir davon aus, dass das Kontingent an Pech für dieses Wochenende heute verbraucht wurde, dann könnte morgen gegen Werder Bremen (die 5:3 gegen Dresden verloren) etwas gehen. Gute Nacht und viel Glück morgen!
Helmut Floeel - 17. Januar 2019
Toller Bericht - alle Achtung!