Böhmisches Dorf

von am 24. Dezember 2011 in Nachrichten, Planet Schach

Böhmisches Dorf
Dimitrij Bunzmann gegen Andreas Breier, Deutsche U15-Meisterschaft 1993 in Berlin-Neukölln

Anruf bei der Oper, 1993 gab’s nur wenige mit Mobil­te­lefon. „Können Sie nach Neukölln? Wir hätten ein Thema für die Lokal­seiten.“

Keine andere Zeitung in ganz Deutschland hatte in den Jahren nach der Wieder­ver­ei­nigung mehr angesehene Journa­lis­ten­preise zugesprochen bekommen als die Neue Zeit“, berichtet Wikipedia über das Blatt von einst. Kein schlechter Start für einen Reporter. In der Lokal­re­daktion begann damals auch Lorenz Maroldt, heute Chefre­dakteur des Tages­spiegels.

Bei der Europa­meis­ter­schaft in Griechenland war Jan Gustafsson im November wesentlich erfolg­reicher als bei der deutschen U15 in Neukölln. Andreas Breier rutschte noch ins Turnier, Dimitrij Bunzmann hatte noch rote Wangen und Jan Gustafsson (der Bericht unter­schlägt seine Hamburger Herkunft) war schon damals für lässige Gesten zu haben. Gewonnen hatte übrigens Heiko Machelett, und Michael Richter, der sich heute um seine eigenen Pinguine kümmert, landete auf Platz 4 hinter Bunzmann.

Die Presse­arbeit des DSB (oder von Rainer Dambach) funktio­nierte jeden­falls ausge­zeichnet, besser als heutzutage, will man meinen. Jeden­falls kam es nur noch einmal vor, dass nicht ich der Zeitung ein Thema vorschlug über Schach, sondern die Zeitung selbst eine Reportage anregte, um auch mal Schach ins Blatt zu bringen.

Beim zweiten Mal regte der Chefre­dakteur der WELT, Wolfram Weimer, Ende der Neunziger eine Schach­ko­lumne an. Abgesehen davon, dass wir schon eine hatten (Ludek Pachman berichtete am Wochenende), wurde es aber in Zusam­men­arbeit mit Dirk Poldauf etwas Neues: Wöchentlich berichtete DIE WELT fortan mit Kolumnen der Top 10 der inter­na­tio­nalen Szene über die Schach­szene. Im Sportteil.

Diese Kolumne gibt es nicht mehr (dann wollten die Tennis- und Golfleute auch eine), aber Lokal­re­dak­tionen. Und U15-Meister­schaften. Der Wind hat sich aber gedreht, und es ist vielleicht eine kultu­relle Frage, weshalb in den Redak­tionen  solche Themen inzwi­schen so selten umgesetzt werden.

Auf der Website des BSV aber berichten aber Autoren wie Frank Kimpinski, Dirk Paulsen und Jürgen Brustkern über die Abenteuer der Berliner Jugend, und Frank Hoppe hat dafür gesorgt, dass das digitale Archiv diese Ereig­nisse bewahrt. Das ist keine Selbst­ver­ständ­lichkeit – vielen Dank dafür.

Deutsche U15 Berlin 1993 Jugendeinzel 22.07.-01.08.1993
Auswerter: Keller, Zahn

U15-Meister: Heiko Machelett

Pl. Name                      ZPS    DWZ alt  Punkte   We  Lstg Niveau DWZ neu 

 1 Heiko Machelett           H3090-016 2047 - 22 7/9     5.550 2176  0  2083 - 23
 2 Philipp Mai               70126-221 1866 - 11 7/9     4.080 2126  0  1956 - 12
 3 Dimitrij Bunzmann         30007-504 1977 - 10 6/9     5.010 2065  0  2004 - 11
 4 Michael Richter           30008-313 1898 - 18 6/9     4.290 2050  0  1949 - 19
 5 David Gross               26006-169 2062 - 17 5.5/9   6.610 1962  0  2034 - 18
 6 Daniel Dexter             G2602-003 1884 - 13 5.5/9   5.900 1848  0  1872 - 14
 7 Andreas Breier            30008-322 1927 - 16 5/9     4.510 1971  0  1941 - 17
 8 Holger Grund              10106-109 2069 - 21 5/9     6.410 1944  0  2034 - 22
 9 Thomas Keller             66304-181 1774 - 15 5/9     3.110 1941  0  1837 - 16
10 Jan Gustafsson            40023-689 1734 - 2  5/9     2.250 1978  0  1829 - 3  
11 Matthias Pflug            24228-055 1775 - 32 4.5/9   3.610 1854  0  1805 - 33
12 Sven Sulzbach             10118-105 1978 - 19 4.5/9   6.110 1835  0  1934 - 20
13 Tino Berger               30046-002 1863 - 15 4.5/9   4.700 1845  0  1857 - 16
14 Tobias Marxen             65301-365 1785 - 8  4.5/9   4.180 1813  0  1796 - 9  
15 Stefphan Becking          90053-066 1860 - 15 4.5/9   5.210 1797  0  1838 - 16
16 Hans-Christoph Andersen   A0103-092 1635 - 9  4.5/9   3.440 1729  0  1675 - 10
17 Markus Poschke            61507-191 1784 - 11 4/9     3.150 1860  0  1813 - 12
18 Ufuk Tuncer               C0645-155 1801 - 13 3.5/9   4.040 1753  0  1784 - 14
19 Florian Röllig            70131-090 1700 - 11 3.5/9   3.970 1658  0  1683 - 12
20 Stefan Schwarz            D2013-021 1680 - 7  3.5/9   3.220 1705  0  1690 - 8  
21 Mario Klee                F1508-041 1910 - 19 3.5/9   6.060 1682  0  1834 - 20
22 Arvid van Rahden          E1501-023 1554 - 8  2.5/9   2.630 1542  0  1549 - 9  
23 Jens Osmer                B0029-083 1270 - 8  2/9     0.560 1398  0  1338 - 9  
24 Holger Biebinger          83204-090 1701 - 40 1.5/9   3.860 1490  0  1615 - 41

 

NEUE ZEIT, 29. Juli 1993

Rote Wangen und fünfzig Minuten Bedenkzeit

In einem Neuköllner Lokal tragen Schachspieler unter 15 Jahren die Deutsche Meisterschaft aus

Der elfjährige Dimitri kann sich nicht entscheiden: Soll er sich auf einen verhei­ßungs­vollen Raubzug begeben oder die Kräfte schützend zum König zurück­be­ordern, wo Gefahr im Verzug ist? Ein Verlust wäre tragisch, immerhin geht es um den Titel des Deutschen Schach­meisters. Im Böhmi­schen Hof in der Neuköllner Richard­straße ist es sehr still, nur die Dielen knarren unter den Schritten der Zuschauer, an zwölf Brettern ticken die Schach­uhren.

Aus allen Bundes­ländern sind 24 Knirpse angereist, um unter sich die Deutsche Meister­schaft der bis zu 15jährigen auszu­tragen. Mädchen sind nicht dabei. „Neun von zehn Schach­spieler sind männlich“, stellt Turnier­leiter Rainer Dambach bedauernd fest. Die Vormittage sind für Besich­ti­gungen und Sport­treiben freige­halten, nachmittags sitzen die jungen Herren bis zu sechs Stunden am Brett. Am Sonnabend wird der Turnier­sieger feststehen.

Fast jeder der Steppkes ist Landes­meister, einige nehmen bereits an Weltmeis­ter­schaften teil. Manch erfah­rener Spieler sähe im Duell alt aus: Mit komplexen Strategien folgen die Teenager routi­niert den Beispielen der alten Meister.

Unter­neh­mungs­lustige Spiel­eröff­nungen sind ihnen ebenso vertraut wie die trockene Geometrie der Endspiel­kunst. Die meisten trainieren mindestens zwei Stunden am Tag. Manche auch nehmen den Computer zu Hilfe, mit denen unzählige Partien zum Studieren gespei­chert und syste­ma­tisch katalo­gi­siert werden können. Der elfjährige Dimitri Bunzmann siedelte erst vor einem Jahr mit seiner Familie aus Usbekistan nach Berlin über und hat sich bereits zum Berliner Meister empor­ge­spielt. Gelassen zieht er die Figuren über die Felder, der Vater beobachtet das Geschehen von Ferne und zwinkert dem Sprößling aufmun­ternd zu. Jugend­licher Überschwang bestimmt selten das Spiel auf den Schach­brettern. Nach fünfzig Minuten Bedenkzeit meditiert Tobias Marxen mit stoischer Ruhe noch immer über seinen siebten Zug. In der Zwischenzeit sind andere Partien bereits entschieden. Einige Spieler ziehen sich dann zum Analy­sieren in Neben­räume zurück. Andere liefern sich beim Blitz­schach mit schnellen und geschickten Handbe­we­gungen Zeitnot­schlachten mit nur fünf oder sogar zwei Minuten für eine ganze Partie.

Am frühen Abend sind die meisten Partien entschieden. An zwei Brettern wird noch gespielt. Cool blättert Jan Gustafsson aus Schleswig-Holstein in einer Zeitschrift. Wie ein Profi läßt er sich nichts anmerken, nur die roten Wangen und das rhyth­mische Wippen der Füße verraten seine Nervo­sität. Der Aufdruck auf dem T-Shirt des eigentlich freundlich wirkenden Neuköllners Andreas Breier verkündet martia­lisch: „Ich mache dich fertig!“ Nach fünf Runden hat er sich, obwohl als Ersatzmann gestartet, überra­schend einen Platz an der Tabel­len­spitze erspielt.

Abb.: Stunden voller Konzen­tration am schwarz-weißen Brett: Dimitri Bunzmann aus Steglitz (links) und Andreas Breier aus Neukölln (Foto: NZ/Tietz)

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