Böhmisches Dorf
Anruf bei der Oper, 1993 gab’s nur wenige mit Mobiltelefon. „Können Sie nach Neukölln? Wir hätten ein Thema für die Lokalseiten.“
„Keine andere Zeitung in ganz Deutschland hatte in den Jahren nach der Wiedervereinigung mehr angesehene Journalistenpreise zugesprochen bekommen als die Neue Zeit“, berichtet Wikipedia über das Blatt von einst. Kein schlechter Start für einen Reporter. In der Lokalredaktion begann damals auch Lorenz Maroldt, heute Chefredakteur des Tagesspiegels.
Bei der Europameisterschaft in Griechenland war Jan Gustafsson im November wesentlich erfolgreicher als bei der deutschen U15 in Neukölln. Andreas Breier rutschte noch ins Turnier, Dimitrij Bunzmann hatte noch rote Wangen und Jan Gustafsson (der Bericht unterschlägt seine Hamburger Herkunft) war schon damals für lässige Gesten zu haben. Gewonnen hatte übrigens Heiko Machelett, und Michael Richter, der sich heute um seine eigenen Pinguine kümmert, landete auf Platz 4 hinter Bunzmann.
Die Pressearbeit des DSB (oder von Rainer Dambach) funktionierte jedenfalls ausgezeichnet, besser als heutzutage, will man meinen. Jedenfalls kam es nur noch einmal vor, dass nicht ich der Zeitung ein Thema vorschlug über Schach, sondern die Zeitung selbst eine Reportage anregte, um auch mal Schach ins Blatt zu bringen.
Beim zweiten Mal regte der Chefredakteur der WELT, Wolfram Weimer, Ende der Neunziger eine Schachkolumne an. Abgesehen davon, dass wir schon eine hatten (Ludek Pachman berichtete am Wochenende), wurde es aber in Zusammenarbeit mit Dirk Poldauf etwas Neues: Wöchentlich berichtete DIE WELT fortan mit Kolumnen der Top 10 der internationalen Szene über die Schachszene. Im Sportteil.
Diese Kolumne gibt es nicht mehr (dann wollten die Tennis- und Golfleute auch eine), aber Lokalredaktionen. Und U15-Meisterschaften. Der Wind hat sich aber gedreht, und es ist vielleicht eine kulturelle Frage, weshalb in den Redaktionen solche Themen inzwischen so selten umgesetzt werden.
Auf der Website des BSV aber berichten aber Autoren wie Frank Kimpinski, Dirk Paulsen und Jürgen Brustkern über die Abenteuer der Berliner Jugend, und Frank Hoppe hat dafür gesorgt, dass das digitale Archiv diese Ereignisse bewahrt. Das ist keine Selbstverständlichkeit – vielen Dank dafür.
Deutsche U15 Berlin 1993 Jugendeinzel 22.07.-01.08.1993 Auswerter: Keller, Zahn U15-Meister: Heiko Machelett Pl. Name ZPS DWZ alt Punkte We Lstg Niveau DWZ neu 1 Heiko Machelett H3090-016 2047 - 22 7/9 5.550 2176 0 2083 - 23 2 Philipp Mai 70126-221 1866 - 11 7/9 4.080 2126 0 1956 - 12 3 Dimitrij Bunzmann 30007-504 1977 - 10 6/9 5.010 2065 0 2004 - 11 4 Michael Richter 30008-313 1898 - 18 6/9 4.290 2050 0 1949 - 19 5 David Gross 26006-169 2062 - 17 5.5/9 6.610 1962 0 2034 - 18 6 Daniel Dexter G2602-003 1884 - 13 5.5/9 5.900 1848 0 1872 - 14 7 Andreas Breier 30008-322 1927 - 16 5/9 4.510 1971 0 1941 - 17 8 Holger Grund 10106-109 2069 - 21 5/9 6.410 1944 0 2034 - 22 9 Thomas Keller 66304-181 1774 - 15 5/9 3.110 1941 0 1837 - 16 10 Jan Gustafsson 40023-689 1734 - 2 5/9 2.250 1978 0 1829 - 3 11 Matthias Pflug 24228-055 1775 - 32 4.5/9 3.610 1854 0 1805 - 33 12 Sven Sulzbach 10118-105 1978 - 19 4.5/9 6.110 1835 0 1934 - 20 13 Tino Berger 30046-002 1863 - 15 4.5/9 4.700 1845 0 1857 - 16 14 Tobias Marxen 65301-365 1785 - 8 4.5/9 4.180 1813 0 1796 - 9 15 Stefphan Becking 90053-066 1860 - 15 4.5/9 5.210 1797 0 1838 - 16 16 Hans-Christoph Andersen A0103-092 1635 - 9 4.5/9 3.440 1729 0 1675 - 10 17 Markus Poschke 61507-191 1784 - 11 4/9 3.150 1860 0 1813 - 12 18 Ufuk Tuncer C0645-155 1801 - 13 3.5/9 4.040 1753 0 1784 - 14 19 Florian Röllig 70131-090 1700 - 11 3.5/9 3.970 1658 0 1683 - 12 20 Stefan Schwarz D2013-021 1680 - 7 3.5/9 3.220 1705 0 1690 - 8 21 Mario Klee F1508-041 1910 - 19 3.5/9 6.060 1682 0 1834 - 20 22 Arvid van Rahden E1501-023 1554 - 8 2.5/9 2.630 1542 0 1549 - 9 23 Jens Osmer B0029-083 1270 - 8 2/9 0.560 1398 0 1338 - 9 24 Holger Biebinger 83204-090 1701 - 40 1.5/9 3.860 1490 0 1615 - 41
NEUE ZEIT, 29. Juli 1993
Rote Wangen und fünfzig Minuten Bedenkzeit
In einem Neuköllner Lokal tragen Schachspieler unter 15 Jahren die Deutsche Meisterschaft aus
Der elfjährige Dimitri kann sich nicht entscheiden: Soll er sich auf einen verheißungsvollen Raubzug begeben oder die Kräfte schützend zum König zurückbeordern, wo Gefahr im Verzug ist? Ein Verlust wäre tragisch, immerhin geht es um den Titel des Deutschen Schachmeisters. Im Böhmischen Hof in der Neuköllner Richardstraße ist es sehr still, nur die Dielen knarren unter den Schritten der Zuschauer, an zwölf Brettern ticken die Schachuhren.
Aus allen Bundesländern sind 24 Knirpse angereist, um unter sich die Deutsche Meisterschaft der bis zu 15jährigen auszutragen. Mädchen sind nicht dabei. „Neun von zehn Schachspieler sind männlich“, stellt Turnierleiter Rainer Dambach bedauernd fest. Die Vormittage sind für Besichtigungen und Sporttreiben freigehalten, nachmittags sitzen die jungen Herren bis zu sechs Stunden am Brett. Am Sonnabend wird der Turniersieger feststehen.
Fast jeder der Steppkes ist Landesmeister, einige nehmen bereits an Weltmeisterschaften teil. Manch erfahrener Spieler sähe im Duell alt aus: Mit komplexen Strategien folgen die Teenager routiniert den Beispielen der alten Meister.
Unternehmungslustige Spieleröffnungen sind ihnen ebenso vertraut wie die trockene Geometrie der Endspielkunst. Die meisten trainieren mindestens zwei Stunden am Tag. Manche auch nehmen den Computer zu Hilfe, mit denen unzählige Partien zum Studieren gespeichert und systematisch katalogisiert werden können. Der elfjährige Dimitri Bunzmann siedelte erst vor einem Jahr mit seiner Familie aus Usbekistan nach Berlin über und hat sich bereits zum Berliner Meister emporgespielt. Gelassen zieht er die Figuren über die Felder, der Vater beobachtet das Geschehen von Ferne und zwinkert dem Sprößling aufmunternd zu. Jugendlicher Überschwang bestimmt selten das Spiel auf den Schachbrettern. Nach fünfzig Minuten Bedenkzeit meditiert Tobias Marxen mit stoischer Ruhe noch immer über seinen siebten Zug. In der Zwischenzeit sind andere Partien bereits entschieden. Einige Spieler ziehen sich dann zum Analysieren in Nebenräume zurück. Andere liefern sich beim Blitzschach mit schnellen und geschickten Handbewegungen Zeitnotschlachten mit nur fünf oder sogar zwei Minuten für eine ganze Partie.
Am frühen Abend sind die meisten Partien entschieden. An zwei Brettern wird noch gespielt. Cool blättert Jan Gustafsson aus Schleswig-Holstein in einer Zeitschrift. Wie ein Profi läßt er sich nichts anmerken, nur die roten Wangen und das rhythmische Wippen der Füße verraten seine Nervosität. Der Aufdruck auf dem T-Shirt des eigentlich freundlich wirkenden Neuköllners Andreas Breier verkündet martialisch: „Ich mache dich fertig!“ Nach fünf Runden hat er sich, obwohl als Ersatzmann gestartet, überraschend einen Platz an der Tabellenspitze erspielt.
Abb.: Stunden voller Konzentration am schwarz-weißen Brett: Dimitri Bunzmann aus Steglitz (links) und Andreas Breier aus Neukölln (Foto: NZ/Tietz)
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