Schauen verboten! Schachfreunde Neukölln mit Sweep zum ersten Europacupsieg
Nach der aufreibenden 1:5-Auftraktniederlage sannen die sechs Recken der Schachfreunde Neukölln in der zweiten Runde auf Revanche. Unter umgekehrten Vorzeichen waren die Hauptstädter diesmal der Favorit, da sie gegenüber ihren walisischen Kontrahenten vom Monmouth Minnows Chess Club an allen Brettern deutlich bessere Wertungszahlen aufweisen. Doch das will nicht immer etwas heißen; die Männer und die Dame von der Insel hatten in der ersten Runde dem in der Setzliste knapp vor den Berlinern rangierenden polnischen Team von Chess Association Plock immerhin zwei Brettpunkte abgenommen. Da der englische Mannschaftskapitän, Christopher Dunworth, eine Mannschaftsmeldung abgegeben hatte, in der die besseren Spieler nicht vorne gelistet sind, musste die voraussichtliche Aufstellung von den Neuköllner „erahnt“ werden. Man lag fast richtig, dass das Team wahrscheinlich in der gleichen Besetzung wie am Vortag spielen würde. Ein Stunde am Laptop und ein Wasserballmatch im Hotelpool mussten ohnehin ausreichen, nachdem vom Frühstücktisch Kontakt mit Mittelsmann Otto Borik aufgenommen wurde. Der Chefredakteur von „Schachmagazin 64“ logiert im Crete Marine Hotel und wirft beim morgendlichen Spaziergang einen Blick auf die Paarungstabellen.
Nachdem erst kurz vor Rundenbeginn die Tischzuweisung begann, konnte es mit etwas Verspätung losgehen. Alle in der Neuköllner Stammformation knieten sich unverdrossen in die Stellungen und schon bald zeichneten sich Positionsvorteile ab. Hendrik Rudolf schlug daraus zuerst Kapital. Gegen die Philidor-Verteidigung des erstmals spielenden John Trevelyan überführte er den Königsspringer bald nach f5. Auch die restlichen Figuren standen harmonischer - insbesondere die Läufer entfalten Druck von a2 nach f7 und auf g5 mit einer Fesselung des Springers f6. Um diese loszuwerden wählte der Ersatzmann von Monmouth allerdings ein Entlastungsmanöver, bei dem er durch ein Schach auf f7 Haus und Hof verloren hätte. Ein früher Punkt nach knapp zwei Stunden war gesichert und Lars Thiede stand am Nachbarbrett bereits deutlich besser. Die 19-jährige Melanie Buckley blieb ihren Eröffnungssystemen treu. Am Vormittag hatte die Datenbank ausgespuckt, dass sie in der Modernen Verteidigung ein Fianchetto mit g3 und einen harmlosen Aufbau mit d3 bevorzugt. Die Idee mittels c5 in einen geschlossenen Sizilianer überzugehen fasste Lars bereits um die Mittagszeit. Die Implementation gelang modellhaft: Raumvorteil am Damenflügel, Einbruchsfelder für die Leichtfiguren und ein stellungstypischer Bauerngewinn verdichteten sich zu Drohungen gegen den weißen König und die Dame. Da half auch die Gegenaktion des vorgerückten Bauern über f4-f5-g6-f7 nichts mehr. Eine kurze Kalkulation und der schwarze König verschanzte sich auf f8, derweil eine doppelte Drohung existent blieb. Angriff auf die weiße Dame auf g5 und Mattdrohung auf g2 durch den schwarzen Turm auf g3 waren nicht mehr zu parieren. Mit einem 2:0-Vorsprung schaute man gelassen der ersten Zeitkontrolle entgegen. An Brett zwei konterte Rainer Polzin angespannt die taktischen Drohungen des zweiten Buckley im Team, Melanies Bruder Simon. Dieser hatte in der Drachenvariante den Standardaufmarsch mit b5 initiiert, die Qualität geopfert und allerlei Ideen entlang der schwarzfeldrigen Diagonalen. Mit einigen Königsmanövern wehrte sich der Neuköllner gegen Mattabsichten und ließ nach der Zeitkontrolle einfach seine Bauernmehrheit am Damenflügel abmarschieren. Fast zeitgleich sicherte Martin Borriss effektiv und unspektakulär in einer geschlossenen Stellung gegen den Trompowski von Dunworth den vierten Punkt.
Nun lag es an Stephan Berndt und Dirk Poldauf, ihren Beitrag zum ersten 6:0-Ergebnis des gesamten Turniers zu leisten. Der Journalist von „Schach“ hatte zwischenzeitlich bereits ein Remis abgelehnt. Wie am Vortag war ein Turmendspiel auf den Brett. Die abendliche Tavernen-Analyse offenbarte zwar eine Reihe von Remiswegen, doch der dritte der Buckley-Geschwister investierte nicht ausreichend Zeit und Zähigkeit in die Verteidigung. Beeindruckt von Dirks Vorwärtsdrang mit eindringendem Turm und König suchte David sein Heil in einer unmittelbaren Gegenaktion am Königsflügel. Dort standen aber g- und h-Bauern zu weit hinten. Die mächtigen Pendants auf b7 und d7 schüttelten selbst den kiebitzenden Wassili Iwantschuk - die Aufgabe folgte prompt.
Damit lastete auf Stephan Berndt die Ehre, das Optimum zu komplettieren. Er hatte zwar im Mittelspiel einen Bauern eingesackt, doch beide Spieler trachteten danach, dem anderen König an den Kragen zu gehen. In beiderseitiger Zeitnotphase versammelten sich das Publikum am Brett. Auch der Berichterstatter als Mannschaftskapitän fand einen Platz auf einem Stuhl einen halben Meter vom Brett entfernt - gebannt verfolgten er seitlich hinter seinem Spieler das taktische Geschehen. Eigentlich kein Anlass zum Einschreiten, doch diesmal legte der griechische Schiedsrichter sein Amt überkorrekt aus. Wo sonst erfreulicherweise deutlich und konsequent auf überlautes Getuschel in den engen Gängen des Konferenzsaals reagiert wird, galt es nun einen neuen Störfaktor zu eliminieren. Mit Händewinken und Abdrängen wurde klargemacht, dass vermeintlich ein Verstoß geplant sein könnte. Zwar gibt es keine Regel dafür, aber es besteht die Möglichkeit, dass der Berliner Kapitän seinem IM ein wenig Hilfe offerieren will. Zu intensives Starren auf den erfahrenen Amerikaner James T. Sherwin ist in Zeitnot geeignet, einen Nachteil für den Mann zu bringen, der bereits in den 50er und 60er Jahren gegen Bobby Fischer spielte. Eine ungewöhnlich fürsorgliche Prävention der ansonsten immer präsenten Schiedsrichter.
Gar nicht anwesend war während der Spielrunde die Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit. Angekündigte Bulletins gab es nicht, Mannschafts- und Paarungslisten konnten nicht ausgedruckt werden, weil keine Tintenpatrone vorhanden war, ein Internetanschluss funktioniert nur sporadisch für Minuten - der besten Dank gebührt hier dem isländischen Kollegen, der wieder und wieder die Einwahl versucht hat! Kurzum - Arbeitsbedingungen, die wenig geeignet sind, im Online-Zeitalter einen adäquaten Informationsdienst zu gewährleisten. Aber es kann an dieser Stelle noch besser werden - die Griechen sind ja für ihre Gastfreundschaft und Improvisationskunst geschätzt.
Ach ja, Stephan Berndt hat gewonnen - auch ohne Röntgen-Blicke seines Mannschaftskapitäns. Sein Gegner bewies sogar ein feines Gespür für Selbstironie. Da nach der Zeitkontrolle ein Matt nur durch großen Materialverlust abzuwenden war. Zog er seinen König so hin, dass ein ästhetisches Mattbild aufgelegt werden konnte. Die Berliner feierten ein perfektes Score bei ihrem ersten Sieg auf europäischer Ebene - inklusive eines frühen Abmarschs zum Feiern.
Andere Zwischenstände und Entergebnisse waren beispielsweise die 3:2-Führung von Werder Bremen gegen ASA Tel Aviv, wobei noch Rainer Knaak ein Turmendspiel mit Minusbauern verteidigte. Sven Joachim sorgte mit seinem zweiten Sieg bisher für den einigen Gewinn im Match. Titelverteidiger Bosna Sarajevo gewann erneut 5,5:0,5 und wieder war es der unglücklich spielende Kiril Georgiev, der einen halben Punkt abgab. Die russischen Teams punkteten ebenfalls: Norilsky Nikel bezwang Alkaloid aus Mazedonien mit 4,5:1,5 und Gazovik errang einen 3,5:2,5-Erfolg über ULIM Moldava. St. Petersburg lag ebenfalls bereits klar in Front gegen Plock. Das ukrainische Team von Donbass erzielte ungefährdet ein 4:2 gegen Boavista. Polonia Warschau erreichte das Minimalziel, ein 3,5:2,5, wobei der einheimische Bartlomiej Macieja den Punkt machte, während die andern Großmeister mit fünf Remis absicherten.
Die richtigen Top-Duelle stehen noch aus. Dann müssen alle vorsichtig sein, ihren Gegner in Zeitnot zu intensiv anzuschauen. Auf Kreta hat man dafür einen scharfen Blick!
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