Wenn Russen kontern - Schachfreunde Neukölln auf den Spuren der Fußballnationalmannschaft

von am 22. September 2001 in ECC 2001, Europapokal

Wenn Russen kontern - Schachfreunde Neukölln auf den Spuren der Fußballnationalmannschaft

Die 17. Europäische Mannschafts­eu­ro­pa­meis­ter­schaft hat begonnen: 39 Teams bestreiten seit Sonntag, den 23. September, in Panormo auf Kreta die sieben Runden der „Olympiade für Vereins­mann­schaften“. Obwohl die Zahl der Teilnehmer gegenüber den Voranmel­dungen gleich geblieben ist, haben sich kleinere Verän­de­rungen ergeben. Die Kroaten aus Zagreb und die Serben aus Novos­adski reisten nicht an; dafür erschienen die Belgier aus Antwerpen und die Schach­ab­teilung des portu­gie­si­schen Fußball­vereins Boavista Futebol Club. Deutschland ist ebenfalls mit einem Kicker-Club, dem SV Werder Bremen, vertreten. Die Schach­sektion von der Weser trat in Runde eins kollektiv in Vereins­farben an: Auf den schwarzen Polo-Shirts ragen das Vereins­wappen und der Name des Haupt­sponsors OSC. Dieser ist derzeit nicht einmal auf der Brust der balltre­tenden Verein­s­an­ge­stellten präsent. Als einzige weitere Mannschaft sticht nur noch das lettische Team aus Riga durch die leuchtend blauen T-Shirts des Trans­port­un­ter­nehmens TSI aus der Masse von 234 Spielern.

Die zweite deutsche Abordnung aus der Haupt­stadt, die Schach­freunde Neukölln 03, bevorzugt indivi­duelle Bekleidung, musste sich aber - im Gegensatz zu den sommer­lichen 30 Grad Außen­tem­pe­ra­turen - ebenfalls auf die Kühlung einer leistungs­starken Klima­anlage einstellen. Warm anziehen galt auch wegen des Gegners. Die nach dem Titel­ver­tei­diger Bosna Sarajevo zweit­stärkste Mannschaft, der Schachclub aus St. Petersburg (Wertungs­durch­schnitt 2639 Elo-Punkte), setzte sich den Berliner Amateur­spielern gegenüber. Wie in der ersten Runde von Schweizer-System-Wettbe­werben üblich spielt die obere gegen die untere Hälfte der Setzliste, d.h. es kommt absehbar - noch mehr als bei Einzel­tur­nieren - zu Erfolgen der Favoriten. Und genau so geschah es; einzig an einzelnen Brettern der Sechser-Teams ergaben sich bisweilen überra­schende Punkte­tei­lungen oder Außen­sei­ter­siege. Erwischt hat es den Funktionär der ausrich­tenden European Chess Union, Großmeister Zurab Azmai­pa­ra­schwili aus Georgien, der für Kiseljak aus Bosnien-Herzi­gowina am Spitzen­brett antritt. Gegen den altge­dienten Großmeis­ter­kol­legen Ulf Andersson von SK Rockaden Stockholm setzte es eine Niederlage, die aller­dings ohne Folgen für das Team blieb.

Ebenso wie bei anderen Spiel­an­set­zungen an der Spitze ergaben sich zumeist große Spiel­stär­ke­un­ter­schiede an allen sechs Brettern. Ergeb­nisse von 5,5:0,5 oder 5:1 waren keine Seltenheit. Einen schwie­ri­geren Stand hatten da im Mittelfeld die Bremer gegen den Chess Club Reykjavik. Mit der Taktik vorne dicht­halten, hinten punkten lag man aller­dings richtig: Die „Großmeister-Legionäre“ Zbynek Hracek und Vlastimil Babula aus Tsche­chien, der Däne Lars Schan­dorff und der Schweizer Yannik Pelletier spielten unent­schieden, während Sven Joachim und Gerlef Meins die vollen Punkte zum 4:2-Sieg holten.

Eine derartige Strategie konnten die Neuköllner gegen die übermäch­tigen Russen natürlich nicht anwenden. Mit durch­schnittlich fast zweihundert Wertungs­punkten mehr leistete sich das Team aus dem „Venedig des Nordens“ sogar, den Ex-Weltmeister der FIDE, Alexander Chalifman, pausieren zu lassen. Doch am Spitzen­brett ergab sich dadurch kein Quali­täts­verlust: Peter Swidler war in den 90er Jahren dreimal russi­scher Einzel­meister. Stephan Berndt bewäl­tigte die Eröffnung in einer Spani­schen Partie souverän solide, so dass der Weltrang­lis­ten­sieb­zehnte von sich aus nach 21 Zügen das Remis anbot. Die Mannschafts­kol­legen sollten es richten. Sergei Ivanov war an Brett sechs gegen Henrik Rudolf bald auf bestem Wege dazu, da der Dresdener Mathe­matik-Student in Reihen der Rixdorfer eine königs­in­dische Vertei­digung schlecht behan­delte. Besser gelang es Rainer Polzin, am zweiten Brett mit diesem Eröff­nungs­system klarzu­kommen. Gegen Konstantin Sakaev wurde ganz im Sinne der schwarzen Spiel­anlage der Bauern­vorstoß mit b5 durch­ge­setzt, der Bauer e4 blieb anfällig und die Figuren­ko­or­di­nation des Neuköllners ließ schon die Hoffnung auf einen Überra­schungs­erfolg keimen.

Derweil sah sich am Nachbar­brett Martin Borriss wachsenden Problemen gegen die Schach­le­gende Viktor Kortschnoi gegenüber. In seiner innig geliebten Franzö­si­schen Vertei­digung hatte das 70-jährige Schach-Urgestein, welches noch in der Vorwoche bei starken Großmeis­ter­turnier in Buenos Aires den geteilten zweiten Platz hinter seinem ehema­ligen Erzri­valen Anatoli Karpow belegt hatte, die Initiative auf der c-Linie ergriffen. Der weiße Bauern­vorstoß des ebenfalls in Dresden ansäs­sigen Infor­ma­tikers am Königs­flügel war weniger wirksam als der Aufmarsch des Wahl-Schweizers am Damen­flügel. Mit einigen takti­schen Kabinett­stückchen eroberte der „fürch­ter­liche Viktor“, der die vergan­genen beiden Jahre auch die Mannschafts­meis­ter­schaft in seiner alten Heimat mitge­spielt hat, den vollen Punkt zur Führung der St. Peter­burger. Ivanov erhöhte kurz danach auf 2,5:0,5, in dem er Rudolfs Stellung über die c-Linie infil­trierte. Jetzt zeigten die Berliner aller­dings Zähigkeit. Ein Match nach dem anderen endete, der Saal räumte sich. Aber auch nach der sechsten Stunde hielten drei Neuköllner wacker durch. Dirk Poldauf - selbst Experte der Engli­schen Eröffnung - durch­lebte gegen Jewgeni Pigusow die Finessen des Mittel­spiels in diesem positio­nellen Eröff­nungs­system und rettete sich schließlich in ein theore­ti­sches Turmend­spiel, in welchem der Russe mit den weißen Steinen den f- und h-Bauer übrig behielt. Derweil konterte Lars Thiede an Brett fünf gegen Sergei Volkov ebenfalls in einem Turmend­spiel. Nachdem der gebürtige Spandauer im Mittel­spiel den schwarzen König in die Brett­mitte trieb, konnte der Russe gerade noch die Figuren­ent­wicklung abschließen und selbst aktiv werden. Ohne das die Balance in Gefahr geriet, einigte man sich nach 62 Zügen auf die Punkte­teilung. Ein zweiter Achtungs­erfolg war geschafft.

Inzwi­schen durch­lebte Rainer Polzin seine dritte Krise. Dank der Fischer-Uhr wird bei jedem Zug ein Bonus von 30 Sekunden hinzu­ad­diert - Zeitüber­schrei­tungen werden unwahr­schein­licher, der Blutdruck der Spieler und der Zuschauer bleibt aller­dings gleich hoch. Insbe­sondere wenn es ein Ritt am Abgrund ist. Unmit­telbar vor der Zeitkon­trolle im 40. Zug verwan­delte der Neuköllner durch ein „Not-Schach­gebot“ mit der Dame die vielver­spre­chende Stellung in eine unklare Sache. Sakaev gelang es zuvor, einen Springer auf e6 einzu­pflanzen, den Polzin unter Hergabe der Qualität entfernte. Sein Trumpf stellte die Bauern­phalanx auf b-, c- und d-Linie dar. Aller­dings schob er unvor­sich­ti­ger­weise in der zweiten Zeitnot­phase den d-Bauern nach vorne: Weiß begann mit seinen verblie­benen Schwer­fi­guren, die Linien und die weißen Diago­nalen zu kontrol­lieren. Mittels eines trick­reichen Bauern­hebel zog der Russe die Schlinge um den König zu. Zwar konnte ein Matt durch Damen­tausch verhindert werden, doch mit der restlichen Materi­al­kon­stel­lation war es nicht zu schwer, die Partie zu drehen. Resignie­rende Enttäu­schung nach fast sieben Stunden Kampf.

Gleiches Schicksal sollte auch den Schach­jour­na­listen ereilen. Dirk Poldauf ärgerte sich gewaltig, als er eine eigentlich einfache Wendung übersah, nachdem er einen der beiden verblie­benen Bauern erobert hatte und nur noch den f-Bauern stoppen musste. Leicht hämisch danach der Kommentar der neugierig kiebit­zenden St. Peter­burger Spieler: „Das üben wir bereits in Pionier­palast.“ Doch wie bei Rainer Polzin musste das Berliner Brett vier letztlich der sinkenden Konzen­tration nach mehr als 400 Minuten Tribut zollen. Als letzter Akteur des Tages unter­schrieb er sein Partie­for­mular. 1:5 ist ein Resultat, das für Deutschland allmählich zum Fluch wird.

Nach dieser Stand­pauke verspricht die zweite Runde Besserung. Mit dem walisi­schen Team von Monmouth Minnows Chess Club steht eine lösbare Aufgabe auf dem Programm. Hier spielt u.a. der US-Vetran James T. Sherwin, der in den 50er und 60er Jahren auch gegen den legendäre Bobby Fischer Partien bestritt. FM Dunworth machte sich in den 80er Jahren durch einige Publi­ka­tionen zur Aljechin-Vertei­digung einen Namen. Außerdem ist das Team mit den drei Buckely-Geschwistern besetzt. Die 19-jährige Melanie dürfte dabei wohl wegen der Teilnahme an inter­na­tio­nalen Mädchen-Turnieren die meiste inter­na­tionale Erfahrung besitzen. Dessen ungeachtet sinnt die Berliner Truppe danach, den Anschluß an das Mittelfeld herzu­stellen. Die Vorbe­reitung stellte dabei - wie immer im Mittel­meerraum - eine Badepool-Laptop-Kombi­nation dar. Ob das wohl reichen wird, um dem feuer­roten walisi­schen Drachen, die Krallen zu stutzen?

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