Oh Moro!
Dies wird ein höchst euphorischer, subjektiver, persönlicher Artikel. Ehrlich gesagt, ich fing an zu schreiben, als erst sechs von neun Runden beim Tal Memorial gelaufen waren. Insofern ist zwischenzeitlich meine Euphorie etwas gedämpft worden. Aber der Reihe nach. Ich gebe es zu: Ich bin Fan. Fan feuriger Partien, die mit Namen wie Aljechin, Bronstein, Tal, Fischer, Kasparow und vielen anderen verbunden sind (ich habe hier viele unerwähnt gelassen, nehmt mir das nicht übel. Wie überhaupt mir dieser Artikel vermessen vorkommt, angesichts meiner eigenen dürftigen Spielstärke in Relation zu der meiner Heroes). Warum spielt eigentlich jemand wie ich Schach? WEGEN DER EMOTIONEN! Begeisterung, Langeweile, Verzweiflung, Größenwahn, Selbstverdammung, gelegentlich wirklich mal eine tolle Idee, und wenn es ganz gut läuft: auch eine entsprechende Umsetzung, Lahmarschigkeit, Cleverness – das alles gibt mir das Schach und ich werde auf immer glücklich darüber sein. Nun gab es ja zuletzt nichts zu spielen. ABER ZU GUCKEN!Es spielte neben der kompletten Weltspitze der aus meiner Sicht fantasievollste, mutigste, vielleicht emotionalste Spieler, den das moderne Schach kennt: Alexander Morosewitsch. Nach Runde sechs lag er gemeinsam mit Kramnik mit vier Punkten in Führung, nachdem er in Runde sechs mit Weiß gegen Nakamura die erste Null kassierte. Jede einzelne seiner Partien – sogar diese (erste) Verlustpartie – ist ein Hochgenuss!
Ich fasse es mal ganz kühn zusammen: In Runde 1 den aufstrebenden Fabiano Caruana in rechnerisch ausgeglichener Stellung in ein materielles Ungleichgewicht verwickelt und taktisch an die Wand gespielt. In Runde 2 Magnus Carlsen überspielt und überraschenderweise den Sack nicht zugemacht. In Runde 3 gegen Grischuk eine unglaubliche Partie gespielt und in schließlich beiderseitiger Zeitnot gewonnen. Runde 4 brachte eine relativ unaufgeregte, ausgeglichene Weiß-Partie gegen Radjabov aufs Brett, die Remis endete. In Runde 5 erwischte es dann Levon Aronian, der zeitweilig klaren Vorteil hatte. Diese Partie ist wunderbar von Daniel King auf chessbase.de kommentiert. Da sind Züge drin! 23. … Td7, 35. … Ld2 (der Totmacherzug, als freilich schon alles vorbei ist). Ich mache gar nicht erst den Versuch, hier was zu analysieren. Guckt Euch das an, ich verspreche Begeisterung! Aber was ist schon (rechnerischer) Vorteil?! „Entscheidend ist aufm Platz!“, und da ist Morosewitsch mit seiner dynamischen Spielführung eine Klasse für sich. Seine Zeiteinteilung ist meist besser als die seiner Gegner, er kann extrem gut blitzen und Nerven bewahren. WENN ER GUT DRAUF IST. Und nicht überzieht. Damit kommen wir zur Kehrseite seines Stils, die mir – rein mental betrachtet – irgendwie bekannt vorkommt. Moro der Brückenabbrecher. Nehmen wir die oben erwähnte Partie gegen Nakamura. Guckt Euch mal den Zug 23. f5 an. Ein Zug, auf den man kommen KANN, den man als Normalsterblicher aber sehr wahrscheinlich verwirft (ich rede zumindest von mir selbst). Rechenfähigkeit, Fantasie, Mut zum Risiko – zu schwach ausgeprägt, schade. Man weiß es, trauert kurz, stellt sich dann der Realität und zieht lieber 23. h4, während man – je nach Mentalität – vielleicht sogar angstvoll den Zerfall des Damenflügels betrachtet. Aber Moro zieht 23. f5! Auf die vielen Bauern ist gepfiffen, jetzt geht die Post ab. Kann man so etwas berechnen oder wird darauf vertraut, dass man am Brett (egal – auch gegen Nakamura) schon etwas finden wird? Motive gibt’s einige, aber reichen die und vor allem reicht das Tempo der Figurenmobilisierung, um zuerst Matt zu setzen? Denn ohne Matt sieht das Endspiel trübe aus. Houdini schlägt 25. Td8 vor mit Ausgleich und Abwicklung in ein Endspiel mit ungleicher Materialverteilung. Hat Morosewitsch das übersehen oder hat es ihn nicht interessiert, weil er noch auf Gewinn spielen wollte? 25. Df4 dagegen markiert für mich den Wendepunkt in der Partie, das Überziehen. Ab hier wird das Risiko zu hoch, Nakamura investiert viel Zeit und spielt umsichtig und stark. Ja, und das war’s. Nun folgten zwei weitere Nullen, aber irgendwie mit Ansage, das habe sogar ich als „Nur-Fan“ gespürt. Jewgenij Tomaschewski und Luke McShane (die zwei vom Tabellenende, allerdings eben auch 2738 und 2706 schwer) fanden genau das richtige Rezept gegen meinen Helden. Sie ließen ihn einfach nicht ans Spiel. Die Stellungen waren jeweils lange nahezu ausgeglichen, bis sich wieder dieses Überziehen einstellte. Es ist wie beim Fechten: Degen oder Florett werden für Sekundenbruchteile demonstrativ auf den Boden getippt, der ganze Oberkörper ist plötzlich schutzlos und lädt zum Trefferversuch ein – natürlich inklusive nachfolgender souveräner Parade und erfolgreichem Konter. So der Plan. Luke McShane spielte dann allerdings seinerseits im Stile Morosewitschs, er gewann – im Sog seines Sieges gegen Kramnik am Vortag? – spektakulär mit zunächst Qualitäts-, dann Figurenopfer. Ein für den Unterlegenen schockierendes Finale, eine Partie, die zumal nach diesem Turnierverlauf schwer wegzustecken sein dürfte. Man kann eigentlich froh sein, dass das Turnier sich nun seinem Ende zuneigte. Morosewitsch hat schließlich am letzten Spieltag noch ein Remis gegen den ebenfalls angeschlagenen Kramnik erkämpft (eine beeindruckende Energie- und Moral-Leistung!) und landete als bester Russe auf dem 4. Platz in diesem Klasse-Feld, in dem nur der Sieger Magnus Carlsen ungeschlagen blieb. Schließlich sieht die Tabelle so aus: Die Fangemeinde war auf der abschließenden Pressekonferenz sogar mit Postern unterwegs – welcher Schachmatist hat dies je erlebt!?!
Wieder einmal prägte Morosewitsch mit seinem fantastischen Stil das Turnier mit und fasziniert Tausende Schachfreunde weltweit. Weitere Lobeshymnen zum Beispiel auf niclas-huschenbeth.de. Für den ganz großen Erfolg braucht es jedoch mehr Konstanz, mehr emotionale Stabilität. Auf der Siegerstraße den Realitätssinn bewahren, nach einer Null „bei sich“ bleiben. Das hat eher wenig mit Schach an sich zu tun, das sind Dinge, die jeder reflektierende Mensch in jedem Beruf erfahren kann. Wahnsinn und Genie bedingen sich womöglich und behindern sich zugleich gegenseitig? Dass Morosewitsch taktische Remisen anscheinend prinzipiell ablehnt, finde nicht nur ich höchst sympathisch, allerdings macht diese Haltung Turniere für ihn möglicherweise kräftezehrender als für seine Konkurrenten... Ich bleibe sein treuer Fan und glaube fest, Moro hat seinen Zenit noch vor sich. Ich hoffe, ich konnte Euch infizieren, falls Ihr nicht schon längst infiziert seid. Das Portal www.whychess.org ermöglicht überhaupt wunderbare Live-Erlebnisse. Das nächste tolle Turnier kommt bestimmt. Trefft Euch doch mal zum Public Viewing :-) Euch allen einen schönen Sommer und immer tolle emotionale Erlebnisse beim Schach!
Franz Jittenmeier - 4. August 2012
Lieber Herr Brustkern,
schaun Sie mal auf diese Seite: http://www.chess-international.de/?p=8783
Viele Grüße
Franz Jittenmeier
Martina Skogvall - 3. August 2012
Lieber Jürgen Brustkern, ich hätte ja nie gedacht, dass es so viele Verehrer Morozevichs gibt und ich freue mich darüber. Zeigt dies doch, dass die Liebe zur Romantik, zur Fantasie, zum Risiko vielen Schachfreunden eigen ist. Das kühle, bis weit ins Mittelspiel hinein durchanalysierte Computerschach ist eben nix, was für Nicht-Profis ohne Weiteres nachvollziehbar und auch nicht erfüllend ist. Ich stehe dazu und weiß, dass meine Neigung zum „Menschenschach“, gepaart mit der Unlust am Variantenpauken der rasanten Entwicklung der ELO-Zahl entgegensteht.. Das halte ich aus, denn ich bin nicht allein! :-)) Schönen Urlaub noch und beste Grüße aus Transsilvanien! Martina Skogvall
Jürgen Brustkern - 1. August 2012
Liebe Schachfreundin Martina,mit Ihrem wunderbaren Artikel haben Sie mir aus dem Herzen gesprochen!Kaum eine mir bekannte Publikationplattform(Internet/Magazin)traut sich diesen einzigartigen Schachkünstler zu würdigen.Moro(natürlich lieben hierbei „wir„das Wortspiel Miro..).Trotz des enthaltenden Trends derWeltelite,das Schach mittels Computerhilfe zu entzaubenden(Vorteilssuche Ideenmanagement etc.)versucht Moro spielbare Stellung zu bekommen,was auf seinem Level unglaublich ist.Aronian,Nakamura,Chucky und vor allem Sasikrian pflegen ebenfalls einen dynamischen Stil aber an Moros Gemäldegaleria kommen sie Weltklasseakteure nicht heran.D.h.das er quasi jede Position immer wieder seinen eigenen„drive“ gibt und vor allem in Endspielen mit Mattpointen aufwarten.Leider wie so oft im Leben wird die Kunst nicht angemessen finanziell gewürdigt,was u.a. der Grund war warum unser Held eine„Künstlerpause„einlegte.Hoch soll er(im Zeichen des Krebs geborene..) leben, und lass uns ein Fanklub gründen!Beste Grüsse aus Schweden!Jürgen Brustkern
Theo Heinze - 21. Juni 2012
Toller Artikel :-) Ich war auch die ganze Zeit für Moro, aber leider ist er in der zweiten Hälfte so derbe eingebrochen...