Non semper victus
Die Annahme, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, hat eine lange philosophische Tradition und ist Teil des größeren philosophischen Arguments des 17. Jahrhunderts, demzufolge Gott mit dem Kosmos nichts Geringeres als eben die beste unter allen möglichen Welten hervorbringen konnte. Er wäre andernfalls nicht Gott gewesen, das vollkommene Wesen. Die Argumentation fällt in ein Gefüge mit ihr verbundener logischer Überlegungen, die im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts mit Erfolg (und einkalkuliert paradoxen Ergebnissen) Kernfragen der Religion auf das Gebiet der philosophischen Debatte hinüberzogen. Mit dem furiosen 6:2-Sieg gegen Bremen sind wir diesem Philosophem dank armenischer Hilfe sehr nahegekommen und so lag es demzufolge nahe, ebensolches bei dem Saisonhöhepunkt im Schöneberger Rathaus im Kampf gegen Baden-Baden zu erhoffen. Aber leider ist das so manchmal eine Sache mit den vollkommenen Welten und ihren einkalkulierten paradoxen Ergebnissen. Also kein souveränes 6:2 gegen Baden-Baden, sondern genau andersherum! Vielleicht liegt ja hier das logische Paradox, dass es auch eine beste mögliche Welt aus Baden-Badener Sicht gibt?! Davon konnten sich die zahlreichen Zuschauer überzeugen, die am Samstag bei bitterer Kälte den Weg in den Willy-Brandt-Saal fanden. Schuld an dem regen Zuschauerzuspruch war nicht nur der vielfache deutsche Meister mit seiner Belegschaft von Shirov, Naiditsch & Co (C&A fehlten leider), sondern sicherlich auch der frisch gebackene, oder sollte ich sagen gekrönte Sieger von Wijk, Levon Aronjan, von dessen schachlichen wie magnetischen Fähigkeiten man sich ein Bild machen konnte. (Vielleicht sollte man auch hinzufügen, seinen läuferischen Qualitäten, man sah ihn kaum einmal am Brett sitzen, dafür umso mehr seine Gegner Shirov und Howell, die schier am Stuhl zu kleben schienen, als sie über ihrer Stellung brüteten, während Aronjan leichten Schrittes, man wäre versucht es so zu formulieren, über den Dingen schwebte, schön eingefangen im übrigen auf dem Foto, das auf der Startseite prangt) Doch ein Shirov sorgt zumeist auch für einen hohen Unterhaltungswert, wie er in der sehenswerten Partie am Sonntag gegen Niklas Huschenbeth bewies und sich auch am Sonnabend der armenischen Umklammerung gewachsen zeigte: Remis. Auch Hrant Melkumyan machte es Pons Vallejo so schwer wie möglich, der sich nachdem sein Opferangriff zu scheitern drohte, mit den weißen Steinen schließlich zu einer Zugwiederholung genötigt sah. Die Übrigen leisteten harte und zähe Gegenwehr: Dirk „Poldi“ Poldauf stemmte sich 6 Stunden in einem Turm- und folgendem Damenendspiel, Andrei Maksimenko war dem Remis sehr nahe, verlor aber im Dickicht der Drohungen den Überblick und musste gegen Movsesian die Segel streichen. Besonderes Pech hatte unser Neuzugang Peter Michalik, dessen Uhr falsch eingestellt war und ihm die 30-Sekunden-Zugabe verwehrte. Als er dessen gewahr wurde, hat er nach eigener Einschätzung wohl 15 Minuten eingebüßt und das war gegen einen 2700er doch ein wenig zu viel der Großzügigkeit. Dabei hatte Naiditsch mit den weißen Steinen eine etwas fragwürdige Variante im Caro-Kann gewählt, wie Ilja Schneider, der die Partien für die Zuschauer im Vorraum kommentierte, mit einer stupenden Variantenfülle demonstrierte. Rainer haderte, worüber der Mantel des Schweigens gehört, ein kurzes Streiflicht seines Gegners Gustafson, „Partieanalyse“ wäre zu viel, findet sich in einem kurzen Interview mit Georgios Souleides (auf der Bundesligaseite). Während es an den anderen Spielplätzen also nur so vor Überraschungen hagelte – Tegel bezwang die favorisierten Hockenheimer, Wattenscheid stellte den Solingern ein Bein und auch die Mülheimer gerieten gegen Emsdetten unter die Räder, verkehrte Welt also in der besten aller Welten … aber halt: eine Ausnahme gab es doch: zumindest war es die beste aller möglichen Welten für einen Schachfreund, denn Dennes Abel bezwang keinen Geringeren als Rustem Dautov in einer beeindruckenden Partie.
Nachdem wir uns also mit der klaren Niederlage abgefunden hatten, führte der Weg zu einem nahegelegenen Italiener. Im Hintergrund des Lokals befand sich eine verkitschte Variante einer Abendmahlsdarstellung, über der ein Spruchband prangte: Non semper victus qui in pugna cecidit“. Leider waren Levon und Hrant nicht dabei, sonst wäre die biblische Zuordnung auch relativ eindeutig gewesen, wer Wein und Brot reichte - so musste der Kellner herhalten. Während ich, mit dem großen Latinum gewappnet, noch über die Verbform cecidit grübelte und meine kleine Observation in den Raum stellte, verblüffte Ilja durch eine geschliffene Übersetzung: „Es ist nicht immer besiegt, wer im Kampf gefallen ist.“ - ein wahrhaftes Multitalent für nützliches wie unnützes Wissen, erinnert sei noch an seine Partie gegen Edouard im Kampf gegen Bremen und Lars Thiedes (sinngemäßes) Zitat: „Wenn jemand so sonderbare Stellungstypen und -Strategien (zwei Läufer gegen Springer im Endspiel) kennt, dann Ilja!“ Da zwar nun die Übersetzung, nicht aber der Urheber der Weisheit feststand, fing ich an, über den tieferen Sinn nachzudenken. (Nachträgliche Quellenforschung ergab, dass es sich um einen anonymen Autor handeln muss; ob es im Anschluss an die Niederlage einer Schlacht oder eines Turmendspiels getroffen wurde, ist noch ungewiss und bedarf noch weiterer Prüfung, feststeht, dass es nicht von Rainer stammen kann, der – man erinnere sich - eher der prophetischen Literaturgattungen zuzuschreiben ist.) Offenkundig jedoch war hier eine gute Programmatik für den kommenden Kampf gegen die in starker Aufstellung antretenden Trierer am Folgetag formuliert. Mag der Kampf gegen Baden-Baden zwar verloren sein, so sind die Schachfreunde dennoch nicht besiegt, im Kampf um das höhere Ziel, den Klassenerhalt. Ob als Belohnung für die Übersetzung, das sei dahingestellt, auf jeden Fall durfte Ilja ran, während Dennes pausierte und die Kommentierung für die Zuschauer übernahm. (Am Rande sei bemerkt, dass Martin Krämer studiumsbedingt an diesem Wochenende leider nicht spielen mochte, ein wenig schade für ihn, weil man ja nicht jeden Tag mit der Nummer 2 der Schachwelt in einer Mannschaft gegen den amtierenden Meister spielen wird). Ein gutes Omen für den Kampf gegen Trier war es dann auch, dass just die Stellung, die Ilja und Dennes noch wenige Minuten vor dem Beginn auf dem Brett hatten, tatsächlich auf das Brett kam. Die ersten beiden Punkte erzielten hingegen die Trierer. Kurioserweise spielte Andrei exakt jene Variante, die noch vor wenigen Tagen in Gibraltar gespielt wurde und, da mit einem Damenopfer verbunden, für einige Furore sorgte. Ob er sie kannte oder nicht, das Ergebnis war das gleiche wie in Gibraltar: schöner Sieg für Weiß; die zweite Niederlage musste Lars einstecken, der bis dahin eine gute Stellung ausgespielt hatte und in Zeitnot ein taktisches Versehen beging. Doch noch war der Kampf nicht geschlagen, es gab auch Hoffnung, Ilja hatte mittlerweile eine klare Gewinnstellung und auch die Partien von Rainer und Hrant schienen deutlich besser für uns zu stehen. Und über Aronjans Fähigkeit, kleinste Vorteile auszubauen und Stellungen noch zum Gewinn zu führen, brauche ich nicht eigens zu schreiben. So verliefen die nächsten Minuten mit Höhen und Tiefen und etwas erleichtert konnten die mitfiebernden Zuschauer registrieren, dass Arnd ein Remis durch Zugwiederholung reklamieren konnte. Hrant steuerte dann seinen Teil bei und somit war auch der zweite Punkt für die Schachfreunde offiziell. Remis auch für Peter und somit stand es 3:3 bei noch zwei laufenden Partien von Levon und Rainer. Und hier zeigte sich wieder einmal die große Klasse unseres zweiten Spitzenbretts, der Howell schlussendlich vor so große Probleme stellte, dass dieser an einem gewissen Punkt zusammenbrach, auch zermürbt durch eine permanente Zeitknappheit. Schachpsychologisch ist hier ein interessanter Mechanismus zu beobachten gewesen. Howell musste schon eine Weile äußerst defensive Züge machen und versuchen, den „Laden dicht zu halten“. Und in der Tat war substantiell auch kein großer Vorteil zu erkennen. Schwarz war am Drücker, aber Weiß hatte alle Schwächen abdecken bzw. kontrollieren können. Geschickterweise bot Levon dem Trierer eine Möglichkeit, einen aktiven Zug zu machen (Se4) und just dieser stellte die Partie ein! Rainer fiel es keine Mühe, seine Partie zum Remis zu führen und trug zur Realisierung seiner Prophezeiung zu Saisonbeginn tatkräftig bei: Mit dem Abstieg haben wir in dieser Saison nicht am Hut!
Nachtrag: Als wir nach dem gewonnenen Kampf gegen Trier denselben Italiener aufsuchten, mussten wir feststellen, dass besagtes Gemälde nicht mehr an seinem Platz hing, sondern offenbar unter mysteriösen Umständen von der Wand gefallen war. Wer jetzt nicht an die höheren (Schach-)Kräfte glauben mag?! Non semper victus ...
→ Ergebnisse, Fotos, Tabellen und Partien
→ Vorbericht im Tagesspiegel, 4. 2. 2012
Dennes-Fan - 7. Februar 2012
Schöner Artikel. :) Wenn Dennis jetzt noch zu Dennes wird, ist er perfekt.
F. O. - 7. Februar 2012
Danke für den Hinweis!