Locker kombiniert - Schachfreunde Neukölln spielen sich ins vordere Mittelfeld
Es gibt Tage, da gelingt einfach alles. In der vierten von sieben Runden kommt es beim Schweizer System in der Regel zur Standortbestimmung - ist man oben mit dabei oder reiht sich ein für einen möglichst soliden Abgang. Mit drei Mannschaftspunkten entsprach die Ausgangssituation der Schachfreunde Neukölln in etwa den Erwartungen. Wie Cercle des Echecs Gambit Bonnevoie aus Luxemburg spielten die Berliner am Vortag gegen ein israelisches Team unentschieden. Die Spieler aus dem kleinsten Benelux-Staat hatten dabei sogar gute Möglichkeiten, ASA Tel Aviv, das mit durchschnittlich 160 Elo-Punkten vor ihnen platzierte Team, zu schlagen. Entsprechend ernsthaft gingen die Schachfreunde die Aufgabe an. Die einzige Unbekannte war dabei, ob am Spitzenbrett Elvira Berend spielt. Dies klärte sich nach dem routinemäßigen Vormittagsanruf von Otto Borik aus dem vier Kilometer entfernt gelegenen Spielerhotel. Es war diesmal Thomas Pähtz, denn die Frauengroßmeisterin ließ ihrem Mann an Brett zwei den Vortritt, da sie auf den mitgereisten Sohn aufpasste.
Diese Aufstellung sorgte für Erleichterung bei Stephan Berndt, denn einerseits hatte er einen Großmeister zum Gegner und andererseits war dieser knapp 150 Wertungspunkte besser eingestuft wie seine Mannschaftskollegin. Entsprechend motiviert ging das „Küken“ ans Werk: das Remisangebot des Erfurter im 14. Zug wurde ablehnend beschieden und die Ausrichtung des Dreibauernangriffs im Pirc richtete sich auf den Königsflügel aus. Mit f5- und h5-Aufzug visierte der Jüngste im Berliner Team die Bloßlegung des schwarzen Königs an. Der Aufmarsch kostete allerdings - wie üblich - reichlich Bedenkzeit, denn man merkte erneut, dass bei unserem Elo-Stärksten im Sommer der Umzug vom Auslandsstudium in Maastricht, Geldverdienen und Spanienurlaub statt Openturniere auf dem Programm standen. Anders bei Pähtz, der routiniert auf taktische Gegenchancen lauerte. Als es für seinen König brenzlig wurde, kam die Aktion: Die schwarze Dame drang mit Schach auf die Grundlinie und verfolgte die weiße Majestät mit Dauerschachs. Wie die abendliche Analyse zwischen griechischem Salat und Souflaki ergab, verpasste Stephan rechtzeitig in paradoxer Manier die Dame nicht mit Mattabsichten beim gegnerischen König zu belassen, sondern auf g3 zum Schutz des eigenen Monarchen zurückzubringen - selbst, wenn eine Fesselung mit dem Läufer drohte. Schade, um die vergebene Chance, aber Auswirkungen auf das Gesamtresultat hatte dies nicht.
An allen Brettern wirbelten die Hauptstädter: Rainer Polzin setzte auf seine bessere Bauernstruktur gegen Trompowski von Fred Berend, Martin Borriss mixte bereits am spanischen Königssturm gegen Tim Upton, Dirk Poldauf konterte taktisch die Angriffsabsichten von Dmitry Goriachnik, Lars Thiede spielte sein bevorzugtes Konzept mit g3 und englischen Motiven und Henrik Rudolf kassierte frühzeitig einen Bauern ein. Nach 3,5 Stunden ging es Schlag auf Schlag.
Zeitgleich gewannen Borriss und Poldauf. Martin hatte mit e5 und f5 die schwarzen Bauern des Schotten in Luxemburger Reihen auf ungünstige Grundlinienfelder getrieben, mit dem Zug Tf4 den Schwenk auf den Königsflügel vorbereitet, um mit einem überraschenden Damenabtausch das Mattnetz vorzubereiten. Selten standen zwei Türme und zwei Leichtfiguren so völlig hilflos neben ihrem König. Das Lächeln in den Neuköllner Gesichter wurde breiter, als Dirk sich zum zweiten Mal hintereinander durch ein Taktiklabyrinth wühlte, mit Dame und Läuferpaar den weißen König bedrängte und zugleich den Weg für den vorgerückten Bauern auf c3 ebnete.
Die Zeitkontrolle in den drei verbliebenen Spielen war unproblematisch. Lars hatte zwar die Qualität weniger, aber es waren alle typischen Manöver gegen den König ohne Bauernschutz erkennbar - im 43. Zug brach die Stellung logisch zusammen. Henrik eroberte inzwischen eine Leichtfigur gegen einen Bauern. Die Abwicklungen gestaltete sich auch hier einfach. Alle trafen sich auf der sonnigen Analyseveranda wieder.
Einzig Rainer drückte noch weitere zwei Stunden. Die nicht ganz genaue Verteidigung des Luxemburger erleichterte die Aufgabe. Ein schwarzer Bauer rückte bis f2 und erhielt die Unterstützung von König und Springer. Die weißen Figuren spielten nicht mehr zusammen. Wieder ein hoher Sieg und ein gutes Brettpunktepolster. In Konsequenz wurden die Schachfreunde gleich noch oben gepaart und erwarten das leicht favorisierte Team von Alkaloid aus Mazedonien. Mit drei Großmeistern, zwei Internationalen Meistern und einem Fide-Meister sicher ein zäher Brocken.
Im Rest des Feldes gab es erste Vorentscheidungen. Titelverteidiger Bosna Sarajevo kam gegen Norilsky Nikel mit 1,5:4,5 unter die Räder und St. Petersburg rang die Bosnier aus Kiseljak nieder. Das dritte russische Team, Gazovik, besiegte mit 4:2 die Mannschaft des griechischen Ausrichters AO Kydon aus Chania, der zweitgrößten Stadt Kretas. Auch andere Favoriten meldeten sich zurück: Polonia Warschau gewann solide 4:2 gegen die Österreicher von Hohenems und Beer Sheva fertigte Eupen mit 5,5:0,5 ab. Unter den beiden unentschiednen Kämpfen an der Spitze dürfte auch Werder Bremen sein. Yannick Pelletier kämpfte zwar mit Minusfigur und einem Bauern weniger um eine Festung, aber das Unterfangen schien kurz vor 21 Uhr nicht zu gelingen. Bislang hatte gegen die starke Dänen von Helsinge Skakkclub, die nur einen schwedischen Legionäre dabei haben, Gerlef Meins verloren, Zbynek Hracek und Sven Joachim remisiert und Vlastimil Babula und Rainer Knaak gewannen. Das 3:3 besiegelt hatten schon die Ukrainer von Danko Donbass und Merkur Graz. Vier Partien endeten unentschieden, während der schmächtige Jungstar Ruslan Ponomariov den erfahrenen Alexander Beljawski in einem Endspiel mit jeweils zwei Leichtfiguren „ausgepresste“. Henrik Teske glich mit einem gewaltigen Schlussangriff gegen Alexander Schneider am hinteren Brett aus.
Damit ist nur noch Norilsky Nikel verlustpunktfrei mit acht Mannschaftspunkten und 18 Brettpunkten, gefolgt von St. Petersburg und Gazovik, die gleichauf sieben Mannschaftspunkte und 16,5 Brettpunkte bilanzieren. Nicht nur die Temperaturen bleiben mit über 30 Grad konstant hoch, sondern auch heiße Kämpfe stehen in den drei Schlussrunden an. Dann werden wir noch mehr aufgewühlte Spieler über die Gänge huschen sehen. Ex-Fide-Weltmeister Alexander Chalifman, erstmals mit einem Kurzremis gegen Zurab Azmaiparaschvili im Einsatz, tigerte stundenlang - lamentierend ob der ungenügenden Leistungen seiner Kollegen - herum. An der dichten Spitze lagen die Nerven schon mal blank und die Neuköllner versuchen weiterhin locker zu kombinieren.
Kommentieren