Als Außenseiter auf der Zielgeraden
Die 15. und letzte Runde der BL-Saison 2022/2023 läuft. Drei Absteiger stehen klar fest, um den 4. Abstiegsplatz gibt es nach dem gestrigen Spieltag echtes Gerangel. Die Berliner gewannen knapp, verdient und glücklich ihren Kampf gegen die SG Solingen, während der HSK gegen den SK Kirchweye unerwartet einen Mannschaftspunkt abgab. Somit ist der HSK Teil des Abstiegskampfes geworden, zumal die Mannschaft heute vermutlich von Werder Bremen hart geprüft werden wird. Das ist DIE Chance für die Schachfreunde: Wenn der HSK verliert, reicht ein Unentschieden gegen den SV Mülheim Nord zum Klassenerhalt. Mülheim hat trotz starker Stammaufstellung bisher nur die nötigsten Punkte auf seinem Konto und will offenbar an diesem Wochenende noch mal alles im Kampf um den Klassenerhalt nach vorne werfen. „Wenn dat man gutgeht“, würde meine Oma gesagt haben.
Die Schachfreunde Berlin sind zwar fast maximal aufgestellt gegen Mülheim, aber doch sind sie Außenseiter.
An Brett 1 stößt Jan-Christian mit Schwarz auf David Navara (einen Weltklassespieler, als dessen Fan ich mich hier mal outen muss), der 132 ELO-Punkte mehr auf die Waage bringt, der größte ELO-Unterschied an einem Brett heute. An den folgenden drei Brettern ist das Kräfteverhältnis in etwa ausgeglichen, während im Unterhaus (besonders an Brett 7) auf Mülheimer Seite die auf dem Papier stärkeren Spieler sitzen. Schröder und Navara spielen eine selten gesehene spanische Variante (4. ... g6).
Kacper an Brett 2 mit Weiß will es wissen und ist gegen Daniel Fridman von Beginn an mit schwerem Werkzeug zugange. Er hat im Franzosen zwei Bauern geopfert und dafür Entwicklungsvorsprung erzielt und - noch wichtiger - den schwarzen schwarzfeldrigen Läufer abgetauscht. Die entstandenen schwarzen Felderschwächen gilt es auszunutzen, und zwar pronto, bevor Schwarz sich konsolidiert.
Jacek an Brett 3 mit Schwarz wird voll angerannt von seinem Gegner Daniel Dardha (g4, g5, h4). Da ist aus weißer Sicht der Überraschungseffekt eingepreist, und wer solchen Attacken standhält, hat vermutlich langfristig solidere Chancen. Schwarz hat zwischenzeitlich einen Bauern investiert, der weiße König wird dafür auch nach langer Rochade nicht zur Ruhe kommen und am Königsflügel droht vorerst keine Gefahr mehr.
Mit viel Raum, dem Hebel f4 und einem Angriffsplan am Königsflügel vor Augen hat Martin an Brett 4 sich eine sehr gute Ausgangsposition geschaffen, die den Gegner viel Bedenkzeit kostet. Hier tippe ich auf einen vollen Punkt.
An den hinteren Brettern sieht es erstaunlich gut aus! Felix steht gut, Tor Fredrik und Max in etwa ausgeglichen, und Emil - Top-Scorer der Schachfreunde in dieser Saison - steht sehr aktiv, ist viel besser entwickelt und bringt die schwarze Dame arg in Bedrängnis. Das sieht nach einem vollen Punkt aus. Nach zweieinhalb Stunden also insgesamt aussichtsreiche Positionen, das lässt hoffen.
Parallel wird Baden-Baden seiner Favoritenrolle in der BL gerecht, führt mit 1:0 gegen Remagen. Viernheim lässt Schönaich keine Chance, für den HSK sieht es auch nicht gut aus. Soweit alles nach Plan.
In Astana spielen zugleich Ding Liren und Ian Nepomniachtchi ihre Schnellschachpartien um die Weltmeisterschaft, kommentiert von Fabiano Caruana. Wo soll man hier bitte zuerst hingucken? Dazu pralle Sonne am Himmel - irgendwie alles bisschen viel heute.
Schlechte Nachrichten. An Brett 1 nach schwerem Fehler vollstreckt David Navara einzügig mit 20. Lf7+ ! Der König muss weichen und nun ist die schwarze Dame auf d7 ungedeckt. Das tut weh und es ist erstaunlich, dass auf diesem Niveau sowas passiert. Aber: Die Stellung war verdächtig und die schwarze Verteidigung nahe an der Überlastung, was gegen einen stärkeren Gegner leicht zusammenbricht. Der Druck auf die anderen Mannschaftskollegen, v.a. die vorderen Bretter, ihre Partien zu halten, nimmt zu. Emil steht immer noch sehr gut, schubst weiterhin die schwarze Dame herum, aber eine Verwertung ist noch nicht in Sicht.
Jungs, orientiert Euch an Ding und Nepo, da ist immer Chaos, und am Ende steht es 6:6 oder gerade 1:1.
Leider sieht es an den verbliebenen vorderen Brettern nicht gut aus. Kacper hat nicht nur einen Bauern weniger, auch ist die Kompensation dahin und sein Gegner hat insbesondere seinen weißfeldrigen Läufer befreit. Jacek hat zwar zwei Bauern weniger, aber irgendwie hat die Stellung Potenzial (offene a-Linie, Batterie Dame-weißfeldriger Läufer).
Nach dem natürlich aussehenden Zug 29. Kd2? findet Jacek 29. ... Te3! Das Blatt wendet sich! Der schwarze Springer deckt zuverlässig die weiße Mattdrohung, ist aber zudem eine Bedrohung für den weißen König, der sich hinter dem schwarzen Bauern e3 verschanzt hat.
Heftige Turbulenzen an Brett 5. Der temporäre Extra-Turm kann Felix nicht helfen, all die Mattdrohungen seines Gegners abzuwehren. Vielleicht greift der Gegner ja noch mal fehl, andere Hoffnung kann man hier leider nicht mehr haben.
Felix hat leider verloren. Dafür hat Jacek gewonnen und Remis an Brett 6. Herzlichen Glückwunsch! Es wird knapp.
Kacper wird verlieren, aber wenn es an den hinteren Brettern zu Siegen kommt und Martin remisiert, dann steht es 4:4. Man darf träumen!
(Auch Ding und Nepo spielen immerzu Remis, es steht 1,5:1,5 und in der letzten Rapid-Partie steht es ausgeglichen ...)
Es ist auch nach 5,5 Stunden immer noch alles offen. Kacper lebt noch, und träumt davon, mit seinen Königsflügelbauern und Turm gegen Dame etwas zu reißen. Martin presst und presst und vielleicht reicht es zum Sieg, den ich gar nicht mehr auf dem Zettel hatte. Max und Emil stehen beide im Turmendspiel in etwa ausgeglichen. Das ergibt am Ende zwar nach derzeitigem Stand eine knappe Niederlage, aber vielleicht geschehen an einem der hinteren Bretter noch Wunder.
Hinten 2x Remis und Martin gewinnt eine schöne Kampfpartie. Lehrreich, schaut es an! Im Mittelspiel trotz Materialgleichheit und symmetrischer Bauernstruktur ein doch erheblicher Vorteil auf Seiten von Weiß: ein agiler Springer gegen einen eingeengten Läufer, und das in Zusammenarbeit mit der Dame. Aber wie das in einen vollen Punkt verwandeln? 43. ... Kg8? ist die Einladung, das Geschehen zu forcieren. 44. h4! Die folgende Sequenz - wie vermutlich alles in dieser Partie - sauber berechnet, Dauerschach und Springerverlust immer verhindert (was so alles hätte unterwegs passieren können), einen Bauern gewonnen und schließlich die Damen richtig getauscht (mit verbliebenem Freibauern auf g statt auf h). Tolle Technik, jeder Zug hat gesessen, das war schön anzusehen.
Hier der Endstand:
Leider hat es zum Klassenerhalt nicht gereicht. Die Tabelle bringt es an den Tag: Die Schachfreunde Berlin sind 4. Absteiger. Eine Ära geht zu Ende: Seit 2008 war unser Team durchgängig in der 1. Bundesliga vertreten. Wird es einen Rückzug geben, nur einen, damit wir als erster Nachrücker doch noch in der nächsten Saison dabei sind? Man wird sehen.
Zwischenzeitlich ist Ding Liren Weltmeister und Baden-Baden Deutscher Meister. Herzlichen Glückwunsch, in beiden Fällen hochverdient. Baden-Baden mit einem Mannschaftspunkt, aber 10 Brettpunkten Vorsprung vor dem Zweitplatzierten Viernheim, Ding Liren hauchdünn durch umfassenden Überblick und taktische Präzision in der 4. Tiebreak-Partie. Seht Euch mal das Ende der letzten Rapid-Partie an. Tg6! Ding geht dem Dauerschach aus dem Weg und spielt auf Gewinn mit nur noch gut einer Minute auf der Uhr, aber der richtigen Berechnung bzw. Stellungseinschätzung. Chapeau!
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