Durchgereicht! Schachfreunde Neukölln verpassen gegen die griechischen Gastgeber von AO Kydon Chania eine gute Platzierung
Der Schweizer-System-GAU ist für die Schachfreunde Neukölln eingetreten. Nach dem Vorschlussrundenausrutscher gegen den weißrussischen Vertreter Vesnianka verlor man in der Finalrunde gegen das starke Team des Ausrichters AO Kydon Chania. Mit einem Wertungsdurchschnitt von knapp 2500 Wertungspunkten galten die Gastgeber als Favorit in dieser Begegnung, obwohl auch sie insgesamt nicht die hohen lokalen Erwartungen erfüllen konnten. Mit 20 Brettpunkten erzielten sie in der Endabrechnung sogar deutlich weniger individuelle Punkte als die Berliner, die 23 Punkte bilanzierten, aber eben nur 6:8 Mannschaftspunkte. Mit Platz 25 in der Schlusstabelle blieben die Hauptstädter ebenso wie der zweite deutsche Vertreter Werder Bremen hinter den Erwartungen zurück. Dennoch war kurz vor Bundesligabeginn am ersten Oktoberwochenende die Teilnahme für beide Teams wegen zweier herausragender Leistungen von Einzelspielern, einer Reihe von guten Partien und dem attraktiven Spielort die Reise wert. Bei den Bremern erzielte der Braunschweiger Mathematikstudent Sven Joachim nervenstark mit 5,5 Punkten aus sieben Partien seine erste Großmeisternorm, obwohl er eigentlich noch dabei ist, den Titel des Internationalen Meisters zu erwerben. In Neuköllner Reihen errang Lars Thiede die Goldplakette für das beste Einzelergebnis an Brett fünf, in dem er ungeschlagen sechs Punkte aus sieben Partien holte.
Doch ein überragender Spieler allein reicht nicht im Sechser-Team. Wie bei allen knappen Kämpfen konnten die Neuköllner diesmal in entscheidenden Momenten nicht aussichtsreiche und teilweise gewonnene Stellungen zu ihren Gunsten entscheiden. Wie in einer Reihe von anderen Begegnungen herrschte am letzten Spieltag auch in der deutsch-griechischen Ansetzung eine besonders nervöse Atmosphäre, denn drei Spieler hatten noch die Möglichkeit, mit einem Sieg Normen zu erzielen. Stephan Berndt benötigte für eine Großmeisternorm einen Sieg gegen Hristos Banikas und auf der anderen Brettseite strebte Stelios Halkias das gleiche Ziel gegen Rainer Polzin an. Außerdem wollte Dimitrios Mastrovasilis gegen Lars Thiede versuchen, voll zu punkten, um eine IM-Norm zu realisieren. Aber am Ende des Tages standen alle ohne etwas da.
Stephan Berndt riskierte am Topbrett gegen die Paulsen-Variante, die fast durchweg im Team von Kydon gespielt wird, ein neues Konzept mit Lg5, doch nach dem Tausch des Läufers gelang es dem schwarzen König immer wieder, auf den schwarzen Feldern zu entwischen. Außerdem harmonierten die Schwerfiguren des griechischen Großmeisters am Damenflügel besser zusammen. Materialgewinn und Figurenfesselungen besiegelten das Schicksal des Jurastudenten nach dreieinhalb Stunden.
Der 0:1-Rückstand aus Berliner Sicht sollte noch eine Weile Bestand haben, denn mangelnde Zähigkeit konnte man der Berliner Truppe nicht nachweisen. Erst nach fünfeinhalb Stunden stellte Martin Borriss seine Bemühungen gegen den mehrfachen Fide-Knockout-WM-Teilnehmer Igor Miladinovic ein. Dieser stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien und hat neben seiner Einbürgerung scheinbar auch gleich noch die Paulsen-Variante naturalisiert. Dem ausgewiesenen Experten konnte unser Dresdener Computer-Spezialist wenig entgegensetzen. Wieder war die Koordination von Dame und Turm der ausschlaggebende Faktor. Kurz nach dem 0:2 Rückstand folgte eine weitere Ernüchterung. Henrik Rudolf hatte das Vergnügen, gegen die hübsche Maria Kouvatsou antreten zu dürfen. Im knappen Sommerkleid verwirrte ihn die braungebrannte ehemalige Mädchenweltmeisterin am Brett wenig. In einer Sizilianischen Partie landete man schließlich in einem Turmendspiel, welches für Schwarz optisch zwar besser aussah, doch ziemlich bestimmt setzte die Frauengroßmeisterin ihre Züge - auch in Zeitnot - dagegen. Die Punkteteilung war im Bauernendspiel unvermeidlich, ebenso wie das gemeinsame Erinnerungsfoto beim Abschlussbankett.
Damit rückte ein zählbarer Mannschaftserfolg für die Berliner in weite Ferne. Pünktlich nach sechs Stunden endeten Schlag auf Schlag zwei Partien, in denen die Berliner sich in ihren Spezialsystemen mehr erhofft hatten. Lars Thiede schöpfte seinen Optimismus aus dem wohlvertrauten Figurenaufbau im Eigenpatent, dem g3-„Anschleicher-System“. Aber mit jedem Figurentausch rückte in der ersten Zeitnotphase ein Turmendspiel näher, in dem die Remisbreite nicht mehr überschritten wurde. Anders bei Rainer Polzin am zweiten Brett. Gegen einen Eröffnungspatzer von Halkias wickelte er in ein Turmendspiel mit Mehrbauer ab, das sicher irgendwo gewinnbar war. Doch auch diesmal kam trotz intensivster Rechenleistung nicht die richtige Idee zu Tage. Selbst in Zeitnot fand der Grieche den letztlich auch für ihn enttäuschenden Weg zur Punkteteilung. Damit hatten die Berliner das letzte Mannschaftsmatch bereits verloren; Dirk Poldauf stellte mit seiner Endspielroutine nach 400 Minuten Spielzeit in einem Springerendspiel das 2:4-Endergebnis her. Zwar hatte Efstratios Grivas - als noch alle Türme auf dem Brett waren - scheinbar die Initiative, doch der Journalist der Zeitschrift „Schach“ fand jeder Zeit die passende Antwort, ein Schach einzustreuen.
In Einzelperformance gestaltete sich das Turnier für die Neuköllner wie folgt: Berndt (3,5/7), Polzin (3/7), Borriss (3/7), Poldauf (4/7), Thiede (6/7) und Rudolf (3,5/7).
Im Bremer Lager war man auch nicht ganz zufrieden. Im Duell der Fußballvereine Werder gegen Boavista Futebol Club wurde das Spitzenbrett mit Zbynek Hracek ebenso „gerupft“ wie Lars Schandorff und Rainer Knaak. Neben Sven Joachim siegten in dieser Begegnung, in der alle Partien von Weiß gewonnen wurden, noch Vlastimil Babula und Yannik Pelletier. An der Spitze kam es nicht mehr zu Sensationen. Norilsky Nikel schob nach einer halben Stunde gegen Danko Donbass aus der Ukraine die Figuren zusammen. Die Russen haben insgesamt einfach die beste Leistung geboten und das homogenste Team gehabt mit Sergei Dolmatov (3/4), Alexander Grischuk (5/6), Sergei Rublewski (5,5/7), Vadim Zviagintsev (5/7), Wladimir Malakhow (5/6), Alexander Rustemow (3,5/6) und Igor Glek (2,5/4). 13 von 14 Mannschaftspunkte kamen zusammen und eine Punktausbeute von 29,5. Ungefährdet errang Polonia Warschau den Silberrang mit 12 Mannschaftspunkten und 26,5 Brettpunkten. Auf den Bronzeplatz hievte sich Gazovik mit 11 Mannschaftspunkten und 27 Brettpunkten. Auf der Zielgeraden verloren haben Donbass als Vierter mit 11 Mannschaftspunkten und 25 Brettpunkten und St. Petersburg, die jeweils nur ein 3:3 schafften. Die Truppe um Alexander Chalifman schaffte nur das Remis gegen Beer Sheva. Schwachstellen war der ehemalige Fide-Weltmeister selbst, der im Mittelspiel gegen Boris Avrukh Remis gab und Alexander Volkov, der von Viktor Mikalevski wegkombiniert wurde. Durch diesen Ausrutscher konnte Titelverteidiger Bosna Sarajevo noch auf Platz fünf vorstoßen, weil sie den Neuköllner Vorschlussrundengegner Vesnianka mit 6:0 abfertigten. Bei jeweils 10 Mannschaftspunkten hatten die Bosnier mit 29,5 Brettpunkten das bessere Ende gegenüber den St. Petersburgern mit 25 Brettpunkten.
Obwohl die anschließenden Dankesreden nach 22 Uhr und üppigem Büffet am Pool des Crete Marine Hotel etwas langatmig ausfielen, wurden um Mitternacht in fröhlicher Runde allerlei bleibende Erinnerungen auf Foto gebannt. Das Motto „Gens una sum“ hatte sich wieder einmal bestätigt. Leider wartet morgen der Rückflug ins deutsche Regenland, aber in einigen Tagen soll es bereits wieder heiße Kämpfe geben.
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