Verzockt! Schachfreunde Neukölln bricht mit drei Nullen die Spitze weg
Das Parkett war bereitet, sieben Runden Schweizer System für die Schachfreunde Neukölln zum erfolgreichen Abschluss zu bringen. Ausgestattet mit reichlich Brettpunkten stand in der vorletzten Runde die Mannschaft Nummer 31 unter 39 Teams bei der Europäischen Meisterschaft für Vereinsmannschaften auf dem Programm. Selbst mit einem knappen Sieg gegen den weißrussischen Vertreter Vesnianka wäre man am letzten Tag auf Platz neun vorgestoßen - und dann hätte vieles passieren können, je nachdem wenn man zugelost bekommen hätte.
Aber hätte und wenn gilt nicht, da kurz vor Ablauf der sieben Stunden Maximalspielzeit Stephan Berndt sein Damenendspiel aufgab. Der Internationale Meister Siarhei Azarau, der einzige Titelträger bei den Weißrussen, hatte gegen die Drachenvariante mit 9....d5 des Berliners den üblichen Bauern für Kompensation ins Endspiel retten können. Auch wenn zwischenzeitlich der Weg über das Turmendspiel die mühsamste Option war, die Chancen auf eine Remis und einen unentschiedenen Ausgang des Mannschaftskampfes waren aus Neuköllner Sicht gering.
Dabei hatte sich die Angelegenheit gut angelassen. Gut gelaunt spazierten die sechs Recken aus der Hauptstadt durch die Parkanlage des Crete Panorama Hotels, schließlich war man Favorit gegen das Team, bei welchem einer der sechs eingeplanten Spieler nicht den Weg nach Kreta schaffte. Mit Rainer Bezler und und Philipp Scheffknecht, zwei „Leihspielern“ des österreichischen Vertreter SK Hohenems, konnte im Wechsel gerade die Startformation besetzt werden. Henrik Rudolf zeigte dem Einspringer Bezler aber sofort, wie ein Läuferopfer auf b5 in der sizilianischen Eröffnung funktioniert. Zwar galt es einige einzige Züge zu finden, aber auch wenn der Rostocker Mathematik-Student diesen Opferreigen noch in keiner Turnierpartie durchführen musste, ein e4-Spieler kennt den Mechanismus, mit welchem die weißen Figuren den König zur Strecke bringen. Die schwarzen Schwer- und Leichtfiguren stehen einfach völlig deplaziert am falschen Flügel.
Nebenan - bei unserem Top-Scorer Lars Thiede - begannen die Figuren auch bereits die Koordination in Richtung weißer Königsstellung. Doch zuvor lieferte Martin Borriss gegen den Ältesten im Vesnianskaer Team, den 60-jährigen Wladimir Litwinow, den Punkt ab. Mit Richter-Rauser ging es nicht durch die wilden Hauptvarianten, sondern entlang der strategischen Aufmärsche nach 6.Le2. Obwohl der Dresdener im Berliner Team die Prinzipien des Eröffnungssystems folgerichtig anwendete - schwarzer Bauernsturm mit f5 und e5 versus Bauernphalanx mit b4 und c5 -, am Ende konnte Weiß die besseren Linien für sein Figurenspiel öffnen.
Doch der Ausgleich schockte uns noch nicht, weil Lars erst eine Figur für einen auf c3 vorgerückten Bauern, der die Mattabsichten unterstützte, opferte, dann die Figur zurück bekam, um mit dem verbliebenen Material die Bauernschwächen des 20-jährigen Junioren abzuräumen. Der gebürtige Spandauer strebt mit sensationellen 5,5 Punkten aus sechs Partien geradewegs den Brettpreis an. Nach knapp vier Stunden lag also Neukölln mit 2:1 in Führung, und bei Dirk Poldauf war derweil ein Remis das wahrscheinlichste Ergebnis - gute Technik vorausgesetzt. Doch zuerst folgte erneut eine der horriblen Zeitnotschlachten von Rainer Polzin. Mit den 30 Sekunden Bonus pro Zug verschaffte er sich bislang im Turnier immer ausreichend Zeit, um zwei, drei wichtige Gedanken zu sammeln. Heuer gestaltete sich die weiße Stellung in einem geschlossenen Sizilianer mit frühen f4 zu kompliziert. Im 35. Zug leuchteten drei Nullen im Display. Genau zum idealen Augenblick opferte der 16-jährige Alexander Zhigalko einen Bauern; die Konsequenzen einzuschätzen beschäftigte unseren bisher am längsten am Brett sitzenden 1,98-Mann diesmal zu lang: ZÜ und Matchausgleich. Die Gesichter wurden längern, denn am Topbrett sanken die Perspektiven und Dirk hatte sein taktische Partiephase längst hinter sich. Im Endspiel mit Dame und Turm hielt der weißrussische Underdog mit einem entfernten Freibauern den Trumpf in der Hand. Doch mit einem taktischen Turmtausch eroberte der Schachjournalist einen Stein zurück. Mit den Damen war es dann leichter möglich, das Remis zu halten, was nach viereinhalb Stunden auch besiegelt wurde.
Dann begann die quälend-lange Phase, in der Stephan Berndt gegen Stellung und Husten ankämpfte. Das Ende ist bekannt - wir haben es verzockt.
Auch dem zweiten deutschen Vertreter Werder Bremen ging es nicht besser mit 1:5 kam die Schachabteilung des Vereins mit den grünen Trikots gegen die Bosnier von Kiseljak unter die Räder. Einzig Sven Joachim braucht die Hoffnung nicht sinken lassen. In der Bundesliga längst eine feste Größe, fehlt im noch der passende IM-Titel. Einen Schritt dazu hat er mit 4,5 Punkten aus sechs Partien (dabei wegen des Brettwechsels viermal mit schwarzen Steinen!) bereits getan. Vorzeitig sicherte er sich die Norm, die bei dieser Meisterschaft ausnahmsweise auch in sieben Runden möglich ist. In der Schlussrunde ist sogar die Großmeisternorm in Reichweite.
Nicht mehr im deutschen Blickfeld ist der Titel. Der wurde bereits im innerrussischen Duell vergeben. Norilsky Nikel besiegte St. Petersburg mit 3,5:2,5 und hat zwei Mannschaftspunkte Vorsprung. Da gegen alle Verfolger bereits gespielt wurde, wird es heute wahrscheinlich ein kurzes 3:3 gegen wen auch immer geben. Dann kann der Wodka fließen. Die Teamstrategie um Ex-Fide-Weltmeister Alexander Chalifman war allerdings etwas seltsam. Selbst vereinbarte er wiederum ein Kurzremis gegen Sergei Dolmatow und Kämpfer Viktor Kortschnoi musste nach der Vortagniederlage pausieren. So konnte sich der „Mann der lockeren Opfer“, Alexander Grischuk, an Brett zwei bei Nikel leisten, gegen Peter Swidler seine Siegesserie zu stoppen. Garant für den Gewinn war Sergei Rublewski, der gegen Alexander Sakaev in der französischen Tarrasch-Variante einen Bauern in ein Turmendspiel mitnehmen konnte. Ein breites Lächeln und viel Schulterkopfen. Mal sehen, wer am Abschlusstag alles fröhlich feiern wird!
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