Il Vesuvio oder Giuoco Piano --- Hauptsache Italien
Die Schachfreunde Berlin bei der Bundesliga-Meisterschaft in Karlsruhe (Teil 1)
„Das schönste Land in Deutschlands Gau’n,
das ist das Badner Land.
Es ist so herrlich anzuschaun
und ruht in Gottes Hand.”
Um ehrlich zu sein, habe ich das immer für ein Gerücht gehalten. Karlsruhe zumal, eine langweilige Provinzstadt, wo man Züge wechselt oder auf der A5 im Stau steht. Aber während des Bundesliga-Meisterturniers habe ich meine Meinung geändert: es handelt es sich um eine der lebenswertesten Städte Deutschlands. Ein barockes Schloss im Stadtzentrum, hinter dem sich endlose Wälder erstrecken, die einem Eichendorff-Gedichtband entnommen sein könnten und sich mit dem Fahrrad leicht erkunden lassen. Authentische Cafés, Kneipen und Brauhäuser mit gutem Essen und Wifi-Passwort „nurderkscnurderksc”. Vor allem aber der Feinkostladen „Il Vesuvio” inklusive sizilianischer Mama und der sogar von den Berlinern sehr geschätzte Falafel-Imbiss „Palmera”. Sowie eine große Anzahl herrlicher Schwimmbäder, vom beinahe ganzjährig geöffneten Freibad mit 50m-Bahn bis zur Vierordt-Therme neben dem Spielsaal. Ja, es lebt sich nicht schlecht im Badner Land.
Rainer Polzin hatte uns nicht im Betonkasten neben dem Spielsaal einquartiert, wo die meisten Mannschaften logierten, sondern im kleinen, aber sympathischen „Hotel Barbarossa” in der Karlsruher Südstadt. Somit konnten wir auf dem kurzen Weg zum Spielsaal mehr als einmal einen Boxenstop bei erwähntem „Vesuvio” einlegen und die notwendige Kaffeezufuhr sicherstellen. Insbesondere Krzysztof war durch den fehlenden Kaffee im Spielsaal (Corona!) sichtlich aus dem Konzept gebracht, was man seinem Spiel aber nicht anmerkte.
Die Berlin Boyz waren diesmal eine bunte Mischung aus gestandenen Altmeistern, die beim Espresso ihre Lebensweisheiten von sich gaben (Rainer Polzin, Henrik Rudolf, Jan Sprenger), den heranstürmenden Talenten Felix Blohberger, Emil Schmidek, und Johannes Florstedt, unseren polnischen Elitetruppen (Szymon Gulumarz, Krzysztof Jakubowski) sowie Marco Baldauf, der ein bisschen von allem ist - vor allem aber unverzichtbarer Eröffnugstherapeut, auf dessen Couch schon mancher Spieler für den vollen Punkt am Nachmittag flott gemacht wurde. Mit dieser Aufstellung---Mikael Agopov musste leider kurzfristig wegen Krankheit absagen---hofften wir darauf die Teams in Reichweite zu schlagen (Aachen, München) und vielleicht einen Überraschungserfolg gegen die starken Teams einzufahren.
Dienstag, 15. September
Der Anreisetag. Beim Abendessen in reduzierter Besetzung wurde darüber diskutiert, dass GRENKE in der Wirtschaftspresse gerade in einem Atemzug mit Wirecard genannt wird. Großer Stress bei den Gastgebern und Organisatoren. In der Zwischenzeit lerne ich ein paar Spieler besser kennen. So erfahre ich, dass Johannes ebenfalls Klavier spielt; sofort werden ein paar vierhändige Stücke von Schubert eingeplant und Spotify-Links in der Gruppe geteilt. Das Gespräch zu dritt - der Gitarrenvirtuose Emil ist auch dabei - dreht sich viel um Musik und ihre Ästhetik. Spät abends treffen die anderen Spieler ein, aber wir sehen uns erst am nächsten Tag beim Frühstück.
Mittwoch, 16. September
Gleich im ersten Kampf müssen wir gegen das „Kanonenfutter” aus Aachen antreten. Da wir die Aufstellung nicht kennen und die Vorbereitung schwierig ist, gönnen wir uns einen geruhsamen Vormittag bei „Il Vesuvio”, während die Kastanien von den Bäumen der Fußgängerzone fallen. „So gut wird es uns im ganzen Turnier nicht mehr gehen”, prophezeit Marco. Ich freunde mich mit der Sizilianerin Sara an, die hinter der Käsetheke steht. Gleich meine erste Bestellung geht allerdings schief, als ich anstelle eines „caffè normale” (in Italien das gebräuchliche Wort für einen Espresso) eine große Tasse Kaffee erhalte. Lachen, Entschuldigung, aber ab jetzt gibt es keine Missverständnisse mehr.
Um 14 Uhr wird es dann ernst und wir betreten die riesige Weiten der Gartenhalle mit Metern Abstand zwischen den Brettern. Zwei Spielsäle für je zwei Kämpfe. Wir sind meistens in einem etwas tristen Saal, der so aussieht, wie leere, ungeschmückte Messehallen es nun einmal tun. Nicht einfach den Überblick zu behalten. Allerdings gibt es für jeden Kampf einen Bildschirm, an dem man schnell die Lage einschätzen kann ohne alle Bretter auf- und abzuschreiten. Das Corona-Protokoll sieht Plexiglas über den Brettern und keinen Handschlag vor und nach der Partie vor. Nicht ideal, aber unter den gegebenen Umständen akzeptabel.
Der Kampf verläuft ungeahnt schwierig. Am Anfang erscheint noch alles im Lot, da Felix schnell Vorteil erhält und Szymon seinen Gegner Christian Seel nach dessen zahmer Eröffnungsbehandlung mit Schwarz überspielt. Krzysztofs Gegner Felix Klein lässt seine Zeit ablaufen. Auch Marco erreicht Vorteil im Mittelspiel und gewinnt flott eine gute Partie gegen den starken IM Thomas Koch. Dasselbe glückt Emil gegen Rudolf Meessen. Nur eine Frage der Höhe des Sieges?
Alle Partien nachspielen:
https://chess24.com/en/watch/live-tournaments/schachbundesliga-2020-meisterschaftsturnier/1/3/1
Weit gefehlt. Szymon lässt eine große Siegchance aus, verliert danach den Faden und verpasst den Moment um die Notbremse zu ziehen. Sein Gegner kontert ihn aus und fährt den Punkt ein. Ich selbst habe mit Schwarz gegen Thibaut Vandenbussche die Partie zu aggressiv angelegt und muss ein schlechtes Endspiel verteidigen. Felix hat zu optimistisch gespielt, seine gute Stellung überzogen und steht ebenfalls am Rande des Abgrunds. Krzysztof forciert die Dinge gegen seinen in Zeitnot befindlichen Gegner ohne Not und verliert überraschend. Henrik sieht Gespenster und nimmt in klar besserer Stellung ein Remisangebot an. Johannes muss ein Endspiel mit Bauer gegen Qualität verteidigen (das sein Gegner allerdings schnell remis gibt).
3-3 also mit noch zwei schwierigen Stellungen. Glücklicherweise ist mein Turmendspiel mit Minusbauer leichter remis als ich dachte, und auch Felix kann sich nach weiteren Abenteuern letztendlich halten. Diese wohl inhaltsreichste Partie des Wettkampfes hat Felix selbst kommentiert:
4-4 gegen die nominell klar unterlegenen Aachener ist natürlich eine ziemliche Enttäuschung. Aber Zeit zum Erholen bleibt nicht, denn am nächsten Tag warten mit Viernheim und Baden-Baden die beiden Meisterschafts-Kandidaten!
Donnerstag, 17. September
Dass es heute nicht spannend wird, ist uns allen klar. Zu groß ist die individuelle Klasse unserer Gegner, die selbst in ihrer „Sparaufstellung” drückend überlegen sind. Aber immerhin hoffen wir auf ein paar gute Partien und auf Niederlagen in erträglicher Höhe. Am Morgen gegen Viernheim spielen Rainer und Henrik gegen Gegner in Reichweite und sind (manchmal) nahe am vollen Punkt:
Auch an den anderen Brettern bleibt die Ausbeute unter den Erwartungen. So werfe ich zum Beispiel gegen Anton Korobov eine etwa ausgeglichene, etwas unangenehm zu spielende Stellung durch ein Panikopfer im 38. Zug weg. Gegen einen gleich starken Gegner hätte ich das wohl nicht einmal erwogen. Szymon und Emil glücken solide Remisen, und Krzysztof fährt gegen den französischen GM Thal Abergel sogar einen vollen Punkt ein. Dabei bleibt es leider. 2-6.
Alle Partien nachspielen:
https://chess24.com/en/watch/live-tournaments/schachbundesliga-2020-meisterschaftsturnier/2/3/1
Abends wird es dann noch härter; es wartet Serienmeister Baden-Baden. Die unterhaltsamste Partie spielt Szymon, der sich gegen Caruana furchtlos „modern” verteidigt:
Marco glückt ein Remis gegen Radoslaw Wojtaszek, der mit Schwarz einen sehr provokanten, aber vielleicht gar nicht mal so schlechten Aufbau wählt. Aber die überraschendsten Dinge passieren an Brett drei:
Als ich fertig bin, höre ich, dass wir an den hinteren Brettern (erwartungsgemäß) nichts geholt haben. 1-7, standesgemäße Niederlage. Alle Partien findet der Leser hier:
https://chess24.com/en/watch/live-tournaments/schachbundesliga-2020-meisterschaftsturnier/3/2/1
Beide Kämpfe hoch verloren, in beiden Runden einen halben Punkt verschenkt, 10 Stunden am Schachbrett, abends um 23 Uhr nichts mehr zu essen. So sieht Bundesliga in Corona-Zeiten aus. Wobei Marco freundlicherweise seine (noch gerade vor Küchenschluss bestellte) Pizza mit mir teilte. Auch sein Tag ist nicht optimal gelaufen: er vermisst seinen Geldbeutel. „Hoffentlich liegt der noch am Brett.”
Nach den Aufregungen des Tages dauert es etwas, bis ich einschlafen kann. Meine letzten Gedanken vor dem Wegdämmern sind „48. ...h5+! Aaahhhh!” und „wie gut, dass ich Samstag nachmittag aussetzen darf”.
(Fortsetzung folgt)
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