Oh Moro!

von am 21. Juni 2012 in Nachrichten

Oh Moro!
Foto: Eteri Kublashvili

Dies wird ein höchst eupho­ri­scher, subjek­tiver, persön­licher Artikel. Ehrlich gesagt, ich fing an zu schreiben, als erst sechs von neun Runden beim Tal Memorial gelaufen waren. Insofern ist zwischen­zeitlich meine Euphorie etwas gedämpft worden. Aber der Reihe nach. Ich gebe es zu: Ich bin Fan. Fan feuriger Partien, die mit Namen wie Aljechin, Bronstein, Tal, Fischer, Kasparow und vielen anderen verbunden sind (ich habe hier viele unerwähnt gelassen, nehmt mir das nicht übel. Wie überhaupt mir dieser Artikel vermessen vorkommt, angesichts meiner eigenen dürftigen Spiel­stärke in Relation zu der meiner Heroes). Warum spielt eigentlich jemand wie ich Schach? WEGEN DER EMOTIONEN! Begeis­terung, Lange­weile, Verzweiflung, Größenwahn, Selbst­ver­dammung, gelegentlich wirklich mal eine tolle Idee, und wenn es ganz gut läuft: auch eine entspre­chende Umsetzung, Lahmar­schigkeit, Cleverness – das alles gibt mir das Schach und ich werde auf immer glücklich darüber sein. Nun gab es ja zuletzt nichts zu spielen. ABER ZU GUCKEN!Es spielte neben der kompletten Weltspitze der aus meiner Sicht fanta­sie­vollste, mutigste, vielleicht emotio­nalste Spieler, den das moderne Schach kennt: Alexander Morose­witsch. Nach Runde sechs lag er gemeinsam mit Kramnik mit vier Punkten in Führung, nachdem er in Runde sechs mit Weiß gegen Nakamura die erste Null kassierte. Jede einzelne seiner Partien – sogar diese (erste) Verlust­partie – ist ein Hochgenuss!

… und er sieht auch noch gut aus! - Foto: Anastasija Karlovich

Ich fasse es mal ganz kühn zusammen: In Runde 1 den aufstre­benden Fabiano Caruana in rechne­risch ausge­gli­chener Stellung in ein materi­elles Ungleich­ge­wicht verwi­ckelt und taktisch an die Wand gespielt. In Runde 2 Magnus Carlsen überspielt und überra­schen­der­weise den Sack nicht zugemacht. In Runde 3 gegen Grischuk eine unglaub­liche Partie gespielt und in schließlich beider­sei­tiger Zeitnot gewonnen. Runde 4 brachte eine relativ unauf­ge­regte, ausge­gli­chene Weiß-Partie gegen Radjabov aufs Brett, die Remis endete. In Runde 5 erwischte es dann Levon Aronian, der zeitweilig klaren Vorteil hatte. Diese Partie ist wunderbar von Daniel King auf chessbase.de kommen­tiert. Da sind Züge drin! 23. … Td7, 35. … Ld2 (der Totma­cherzug, als freilich schon alles vorbei ist). Ich mache gar nicht erst den Versuch, hier was zu analy­sieren. Guckt Euch das an, ich verspreche Begeis­terung! Aber was ist schon (rechne­ri­scher) Vorteil?! „Entscheidend ist aufm Platz!“, und da ist Morose­witsch mit seiner dynami­schen Spiel­führung eine Klasse für sich. Seine Zeitein­teilung ist meist besser als die seiner Gegner, er kann extrem gut blitzen und Nerven bewahren. WENN ER GUT DRAUF IST. Und nicht überzieht. Damit kommen wir zur Kehrseite seines Stils, die mir – rein mental betrachtet – irgendwie bekannt vorkommt. Moro der Brücken­ab­brecher. Nehmen wir die oben erwähnte Partie gegen Nakamura. Guckt Euch mal den Zug 23. f5 an. Ein Zug, auf den man kommen KANN, den man als Normal­sterb­licher aber sehr wahrscheinlich verwirft (ich rede zumindest von mir selbst). Rechen­fä­higkeit, Fantasie, Mut zum Risiko – zu schwach ausge­prägt, schade. Man weiß es, trauert kurz, stellt sich dann der Realität und zieht lieber 23. h4, während man – je nach Menta­lität – vielleicht sogar angstvoll den Zerfall des Damen­flügels betrachtet. Aber Moro zieht 23. f5! Auf die vielen Bauern ist gepfiffen, jetzt geht die Post ab. Kann man so etwas berechnen oder wird darauf vertraut, dass man am Brett (egal – auch gegen Nakamura) schon etwas finden wird? Motive gibt’s einige, aber reichen die und vor allem reicht das Tempo der Figuren­mo­bi­li­sierung, um zuerst Matt zu setzen? Denn ohne Matt sieht das Endspiel trübe aus. Houdini schlägt 25. Td8 vor mit Ausgleich und Abwicklung in ein Endspiel mit ungleicher Materi­al­ver­teilung. Hat Morose­witsch das übersehen oder hat es ihn nicht inter­es­siert, weil er noch auf Gewinn spielen wollte? 25. Df4 dagegen markiert für mich den Wende­punkt in der Partie, das Überziehen. Ab hier wird das Risiko zu hoch, Nakamura inves­tiert viel Zeit und spielt umsichtig und stark. Ja, und das war’s. Nun folgten zwei weitere Nullen, aber irgendwie mit Ansage, das habe sogar ich als „Nur-Fan“ gespürt. Jewgenij Tomaschewski und Luke McShane (die zwei vom Tabel­lenende, aller­dings eben auch 2738 und 2706 schwer) fanden genau das richtige Rezept gegen meinen Helden. Sie ließen ihn einfach nicht ans Spiel. Die Stellungen waren jeweils lange nahezu ausge­glichen, bis sich wieder dieses Überziehen einstellte. Es ist wie beim Fechten: Degen oder Florett werden für Sekun­den­bruch­teile demons­trativ auf den Boden getippt, der ganze Oberkörper ist plötzlich schutzlos und lädt zum Treffer­versuch ein – natürlich inklusive nachfol­gender souve­räner Parade und erfolg­reichem Konter. So der Plan. Luke McShane spielte dann aller­dings seiner­seits im Stile Morose­witschs, er gewann – im Sog seines Sieges gegen Kramnik am Vortag? – spekta­kulär mit zunächst Qualitäts-, dann Figuren­opfer. Ein für den Unter­le­genen schockie­rendes Finale, eine Partie, die zumal nach diesem Turnier­verlauf schwer wegzu­stecken sein dürfte. Man kann eigentlich froh sein, dass das Turnier sich nun seinem Ende zuneigte. Morose­witsch hat schließlich am letzten Spieltag noch ein Remis gegen den ebenfalls angeschla­genen Kramnik erkämpft (eine beein­dru­ckende Energie- und Moral-Leistung!) und landete als bester Russe auf dem 4. Platz in diesem Klasse-Feld, in dem nur der Sieger Magnus Carlsen ungeschlagen blieb. Schließlich sieht die Tabelle so aus: Die Fange­meinde war auf der abschlie­ßenden Presse­kon­ferenz sogar mit Postern unterwegs – welcher Schach­matist hat dies je erlebt!?!

Foto: Eteri Kublashvili

Wieder einmal prägte Morose­witsch mit seinem fantas­ti­schen Stil das Turnier mit und faszi­niert Tausende Schach­freunde weltweit. Weitere Lobes­hymnen zum Beispiel auf niclas-huschenbeth.de. Für den ganz großen Erfolg braucht es jedoch mehr Konstanz, mehr emotionale Stabi­lität. Auf der Sieger­straße den Reali­tätssinn bewahren, nach einer Null „bei sich“ bleiben. Das hat eher wenig mit Schach an sich zu tun, das sind Dinge, die jeder reflek­tie­rende Mensch in jedem Beruf erfahren kann. Wahnsinn und Genie bedingen sich womöglich und behindern sich zugleich gegen­seitig? Dass Morose­witsch taktische Remisen anscheinend prinzi­piell ablehnt, finde nicht nur ich höchst sympa­thisch, aller­dings macht diese Haltung Turniere für ihn mögli­cher­weise kräfte­zeh­render als für seine Konkur­renten... Ich bleibe sein treuer Fan und glaube fest, Moro hat seinen Zenit noch vor sich. Ich hoffe, ich konnte Euch infizieren, falls Ihr nicht schon längst infiziert seid. Das Portal www.whychess.org ermög­licht überhaupt wunderbare Live-Erleb­nisse. Das nächste tolle Turnier kommt bestimmt. Trefft Euch doch mal zum Public Viewing :-) Euch allen einen schönen Sommer und immer tolle emotionale Erleb­nisse beim Schach!

Seite drucken

4 KommentareKommentieren

  • Franz Jittenmeier - 4. August 2012 Antworten

    Lieber Herr Brustkern,
    schaun Sie mal auf diese Seite: http://www.chess-international.de/?p=8783
    Viele Grüße
    Franz Jitten­meier

  • Martina Skogvall - 3. August 2012 Antworten

    Lieber Jürgen Brustkern, ich hätte ja nie gedacht, dass es so viele Verehrer Moroze­vichs gibt und ich freue mich darüber. Zeigt dies doch, dass die Liebe zur Romantik, zur Fantasie, zum Risiko vielen Schach­freunden eigen ist. Das kühle, bis weit ins Mittel­spiel hinein durch­ana­ly­sierte Compu­ter­schach ist eben nix, was für Nicht-Profis ohne Weiteres nachvoll­ziehbar und auch nicht erfüllend ist. Ich stehe dazu und weiß, dass meine Neigung zum „Menschen­schach“, gepaart mit der Unlust am Varian­ten­pauken der rasanten Entwicklung der ELO-Zahl entge­gen­steht.. Das halte ich aus, denn ich bin nicht allein! :-)) Schönen Urlaub noch und beste Grüße aus Trans­sil­vanien! Martina Skogvall

  • Jürgen Brustkern - 1. August 2012 Antworten

    Liebe Schach­freundin Martina,mit Ihrem wunder­baren Artikel haben Sie mir aus dem Herzen gesprochen!Kaum eine mir bekannte Publikationplattform(Internet/Magazin)traut sich diesen einzig­ar­tigen Schach­künstler zu würdigen.Moro(natürlich lieben hierbei „wir„das Wortspiel Miro..).Trotz des enthal­tenden Trends derWeltelite,das Schach mittels Compu­ter­hilfe zu entzaubenden(Vorteilssuche Ideen­ma­nagement etc.)versucht Moro spielbare Stellung zu bekommen,was auf seinem Level unglaublich ist.Aronian,Nakamura,Chucky und vor allem Sasikrian pflegen ebenfalls einen dynami­schen Stil aber an Moros Gemäl­de­ga­leria kommen sie Weltklas­se­ak­teure nicht heran.D.h.das er quasi jede Position immer wieder seinen eigenen„drive“ gibt und vor allem in Endspielen mit Mattpointen aufwarten.Leider wie so oft im Leben wird die Kunst nicht angemessen finan­ziell gewürdigt,was u.a. der Grund war warum unser Held eine„Künstlerpause„einlegte.Hoch soll er(im Zeichen des Krebs geborene..) leben, und lass uns ein Fanklub gründen!Beste Grüsse aus Schweden!Jürgen Brustkern

  • Theo Heinze - 21. Juni 2012 Antworten

    Toller Artikel :-) Ich war auch die ganze Zeit für Moro, aber leider ist er in der zweiten Hälfte so derbe einge­brochen...

Kommentieren

Bitte Pflichtfelder ausfüllen