Schach den Belagerern

von am 14. März 2005 in Berichte zur 1. Bundesliga, Planet Schach

Schach den Belagerern
Magnus Carlsen im Willy-Brandt-Haus.

Aus: Der Tages­spiegel, 14. März 2005 (Sport) – Fernando Offermann

Magnus Carlsen ist 14 und hat schon starke Nerven

Ganze vierzehn Jahre alt ist Schach-Großmeister Magnus Carlsen aus Norwegen. Sport­liche, kleine Figur, Mittel­stürmer im Fußball­verein, Pullover mit Rally­e­streifen am Ärmel und das konzen­trierte Gesicht in den Kinder­händen vergraben. Das größte Schach­talent der westlichen Welt seit Bobby Fischer, sagen die Profis schon heute.Die erste Biografie ist bereits erschienen: „Wunder­junge“.

Am Wochenende kam der junge Mann nach Berlin, um das erste Mal für die Schach­freunde Neukölln in der Bundesliga am Spitzen­brett anzutreten. Gegen Watten­scheid musste Neukölln unbedingt punkten, um sich vor dem drohenden Abstieg zu retten.

Am Brett wirkt Carlsen eher wie elf, besonders gegenüber dem langen Peter Heine Nielsen aus Dänemark. Eine Menschen­traube belagert das Spitzen­brett. Das Nerven­duell steht kurz vor dem Höhepunkt. Nielsen sortiert die Beine unter dem Tisch. Sein Pokerface verrät nichts. Das Brett brennt, doch äußerlich bewahren beide skandi­na­vische Coolness.

Eine Fernseh­kamera hat Carlsen dabei ständig im Visier. Das ist nicht üblich im Profi­schach, doch Carlsen lässt es gelten, auch wenn er befangen wirkt. Dabei gerät das verwir­rende Figuren­knäuel langsam außer Kontrolle. „Was dort geschieht, ist so kompli­ziert, das versteht vielleicht keiner hier“, sagt Top-Großmeister Liviu-Dieter Nisipeanu achsel­zu­ckend im Nebenraum. Die Zuschau­er­menge vor Carlsens Brett wächst unauf­hörlich. Immer wieder entflieht Carlsen den Belagerern, indem er sich die Stellungen der anderen anschaut, doch als er wieder einmal optimis­tisch von einem Rundgang ans Brett zurück­kehrt, ist alles vorbei. Ein paar Züge noch, dann gibt der Junge auf.

Fast erleichtert wirkt er, als er sich schnell und allein mit dem Dänen in einen versteckten Raum verziehen kann, um die Partie zu analy­sieren. Das Duell hat beide Nerven gekostet, und den Skandi­na­viern sprudeln anschließend im Gespräch nur so die Varianten heraus, ganz auf Augenhöhe. Magnus beginnt langsam, die schmerz­hafte Niederlage sacken zu lassen, und wirkt beinahe gelöst, als die Tür aufgeht und das Fernsehteam hinein­platzt.

Warum hast du verloren, Magnus? Hast du einen falschen Zug gemacht?“ Nielsen und die Umste­henden wollen schon einschreiten, doch Carlsen versucht bereits, den Reporter mit Floskeln still­zu­legen. „Macht dir Schach Spaß?“, will der Reporter noch wissen. Die norwe­gische Zurück­haltung gebietet dem Knirps nur ein beherrschtes „Nein“. Der große Kasparow hätte den Reporter in diesem Moment wohl aus dem Haus werfen lassen. Der ameri­ka­nische Großmeister Pal Benkö hatte in ähnlichen Momenten schon zugeschlagen.

Erst später zeigt jemand dem verblüfften Nielsen eine einfache Rettungs­mög­lichkeit auf dem Laptop. Doch von alldem bekommt der kleine Carlsen nichts mehr mit, denn um am nächsten Tag für die nächste Spitzen­paarung fit zu sein, braucht er zehn bis zwölf Stunden Schlaf.

Mit Mutter Sigrun hat er sich abends schnell ins Hotel verzogen. Inzwi­schen hat Neukölln längst den Kampf an den anderen Brettern für sich entschieden und wird die Klasse wohl halten. Am gleichen Spieltag hat Werder Bremen haushoch gegen den Deutschen Meister aus Porz gewonnen. Baden, Porz und Bremen führen kurzzeitig punkt­gleich. Aber während Porz und Baden im April noch gegen­ein­ander spielen müssen, hat Bremen nur noch leichtere Gegner vor sich.

War bei den Zuschauern das Wunderkind die Haupt­at­traktion, so war das Tages­thema aller­dings der Rückzug Garri Kasparows vom Profi­schach. „Er hat mit so etwas gerechnet“, sagt Carlsens Mutter Sigrun. „Es sei folge­richtig, weil unter dieser Situation wenig Hoffnung besteht, den Titel wieder zu vereinen.“ Im letzten Jahr konnte Kasparow in Reykjavik gegen Carlsen nur glücklich einer Niederlage entgehen. „Ich war komplett überspielt“, gab der Russe zu – ein seltenes Wort. Und weiter: „Unter den richtigen Bedin­gungen kann dieser Junge es mit jedem aufnehmen.“ Als der damals 13-jährige Carlsen die nächste Partie gegen Kasparow verlor, sagte er ohne jede Ironie: „Ich habe gespielt wie ein Kind.“

Zu Ostern reisen die Carlsens nach Moskau. Zum Training mit Kasparow.

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